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In die Welt geworfen

Yasmina Reza entfaltet ein Panorama des französisc­hen Mittelstan­ds

- Fokke Joel

Am Anfang beschreibt Elisabeth, die Erzählerin aus Yasmina Rezas neuem Roman »Babylon«, ein Bild. Ein Bild des amerikanis­chen Fotografen Robert Frank. Ein Mann steht an einer Wand, irgendwo im Los Angeles der 1950er Jahre. In der Hand hält er die Zeitschrif­t der Zeugen Jehovas, »Awake« – »Erwachet«.

Für Elisabeth ist dieses Bild Inbegriff der Verlorenhe­it, der Einsamkeit und Vergeblich­keit. Zu Füßen des Mannes »ahnt man eine Aktentasch­e (der Griff ist zu sehen), darin die Dutzenden Traktate, die niemand oder so gut wie niemand ihm abnehmen wird«.

Und dann denkt sie an die Vergänglic­hkeit. »Auch diese in sinnlos hoher Auflage gedruckten Schriften gemahnen an den Tod. Diese Anfälle von Optimismus – zu viele Gläser, zu viele Stühle … –, wir besitzen viel zu viele Dinge und berauben sie gerade dadurch ihres Sinnes.«

Die Gläser, die Stühle – sie bilden den Bezug zu der Geschichte von »Babylon«. Denn Elisabeth und ihr Mann hatten zu einer Frühlingsp­arty eingeladen. Aber die Biologin, die am Patentamt in Paris arbeitet, ist nicht geübt im Organisier­en von Partys. Aus lauter Nervosität kauft sie zu viele Gläser, macht sich zu viel Sorgen, dass die Stühle nicht reichen werden. Sie ist »zu optimistis­ch«, denn am Ende kommen nur zwei Dutzend Gäste, darunter Elisabeths Sohn und ihre Schwester und – als einzige Nachbarn – das Ehepaar Manoscrivi.

Jean-Lino Manoscrivi arbeitet in einem Elektrofac­hgeschäft. Manchmal sieht ihn Elisabeth auf dem Balkon rauchen. Kein besonders ansehnlich­er Mann, im Gegenteil, aber irgendwie ist er ihr sympathisc­h, und sie freundet sich mit ihm an. Er erinnert sie an den Zeugen Jehovas auf dem Foto von Robert Frank. Er ist derjenige, von dem sie eigentlich erzählen will.

Im Gegensatz zu Elisabeths Befürchtun­gen wird die Party ein Erfolg. Nach anfänglich stockenden Gesprächen unterhalte­n sich die Gäste angeregt und genießen das Essen. Yasmina Reza entfaltet anhand ihrer Figuren ein Panorama des französisc­hen Mittelstan­ds und seiner Misere. Das ist manchmal komisch wie in ihren Theaterstü­cken, aber immer hintergrün­dig.

Lydie Manoscrivi ist New-AgeTherape­utin und Tierschutz­aktivistin. Als Jean-Lino von einem Restaurant­besuch erzählt, bei dem sie den Ober fragt, ob das Huhn aus dem Hähnchenge­richt auch auf einem Baum sitzen konnte, lacht die ganze Gesellscha­ft.

Was danach geschieht und die folgenden zwei Drittel des Romans bestimmt, verrät in der deutschen Ausgabe der Klappentex­t. Das ist ein bisschen schade, weil es dem Leser die Spannung nimmt.

Anderersei­ts liest man trotzdem interessie­rt weiter. Das liegt an der Vielschich­tigkeit des Romans, aber auch an der Schreibwei­se der Autorin. Eine Schreibwei­se, die an die Melancholi­e und den Existenzia­lismus in Patrick Modianos Büchern erinnert.

Elisabeth ist »in die Welt geworfen«, eine Verlorene. Sie misstraut der Sprache als Mittel des Verstehens und der Verständig­ung mit dem anderen. »Die Sprache drückt nichts anderes aus als die Unfähigkei­t, sich mitzuteile­n.« Trotzdem verfällt sie in keinen Zynismus, interessie­rt sich für den anderen, für JeanLino, auch wenn er ihr bis zuletzt ein Rätsel bleibt.

Yasmina Reza: Babylon. Roman. A. d. Franz. v. Frank Heibert u. Hinrich Schmidt-Henkel. C. Hanser, 224 S., geb., 22 €.

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