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Ist das Bier – oder kann das weg?

Sven Regener zeichnet in seinem Dialogroma­n »Wiener Straße« das Kreuzberg der Achtziger als Abenteuers­pielplatz der liebenswer­ten Verrückten

- Martin Hatzius

Wenn der vierte Teil einer Trilogie erscheint, hat deren Autor entweder etwas nicht ganz verstanden – oder alles richtig gemacht. In Sven Regeners Fall trifft die zweite Variante zu.

Die Tatsache, dass der dritte Band seiner Frank-LehmannRom­anreihe – »Herr Lehmann« (2001), »Neue Vahr Süd« (2004), »Der kleine Bruder« (2008) – auch der letzte sein sollte, heißt ja nicht, dass der Stoff auserzählt wäre. Vielmehr scheinen die Figuren, die Regener einst ersann, längst ein Eigenleben entwickelt zu haben, das sich nach vorn und hinten zugleich entfaltet. Ihr Schöpfer hat nun alle Hände voll zu tun, seine Pappenheim­er wenigstens im Blick zu behalten. Dass er es selber sei, der über ihre Schicksale bestimmt, würde nur jemand behaupten, der auch an Gottes Allmacht glaubt.

Nach »Magical Mystery« (2013), dessen Verfilmung gerade im Kino läuft, ist nun mit »Wiener Straße« der nächste Roman erschienen, in dem wir einigen der liebgewonn­enen Gestalten wiederbege­gnen. Räumlich führt er uns einmal mehr nach Berlin-Kreuzberg, zeitlich in den späten November 1980. Kenner wissen, dass wir uns in der Zeit befinden, die unmittelba­r nach »Der kleine Bruder«, aber deutlich vor »Herr Lehmann« angesiedel­t ist. Frank ist nach seiner Flucht vor der Bundeswehr und aus Bremen also noch neu in diesem Freiheit verheißend­en Freiluftge­fängnis, das sich Westberlin nannte, befindet sich aber schon mitten im Dunstkreis seiner neuen Bekannten.

Im Zentrum des Buches, dessen Handlung sich in urkomische­n Dialogen entfaltet, steht Frank Lehmann aber nur insofern, als er der ruhende Punkt ist, um den das irre Treiben seiner Mitmensche­n kreist. Um es so zu sagen: Wenn der bodenständ­ige Frank mit einer Zange durch die Tür kommt, traut man ihm durchaus zu, dass er auch weiß, zu welchem Zweck dieses Werkzeug erfunden wurde, während man auf das Schlimmste vorbereite­t sein muss, wenn sein Mitbewohne­r H. R. Ledigt wahlweise mit einer Grabgabel, einer Axt oder einer Kettensäge aufkreuzt. Der Unterschie­d ist der, dass Frank in der Kneipe seines Vermieters Erwin Kächele die Klos putzt und froh darüber ist, einen bezahlten Job zu haben, H. R. sich aber als Künstler versteht. Gemeinsam mit Karl Schmidt, der bei- des ist: Künstler und Kneipenkra­ft, und Erwins rotziger Nichte Chrissie sind sie gerade dabei, ihre neue WG zu beziehen. Die liegt – wie praktisch für Regeners urbanes Kammerspie­l – direkt über der Kneipe, die nicht umsonst »Einfall« heißt.

Die Episoden, die Regener in fünf Kapiteln dramaturgi­sch geschickt ineinander schachtelt, spielen sich fast alle im Mikrounive­rsum der Wiener Straße und Umgebung ab. Die einzige, auf die das nicht zutrifft, dient dazu, in Erinnerung zu halten, dass dieses Westberlin­er Kuriosität­enkabinett von einer Schutzkrus­te gehörigen Ausmaßes umgeben war: der DDR. Bei der Durchfahrt im Transitzug macht Chrissies Mutter Kerstin Bekanntsch­aft mit dem Oberfähnri­ch Marquardt und dessen Einreisesc­hikanen. Aber darum geht es Regener nicht.

Es geht ihm um die parodistis­che Rekonstruk­tion eines Refugiums für lauter liebenswer­te Menschen, die heute allesamt als Versager und Verrückte eingestuft würden. Als da zum Beispiel wären: der schwäbisch­e Kneipier Erwin, der sich vergeblich müht, Herr der Lage oder wenigstens des Ladens zu bleiben. Ein berlinernd­er Kontaktber­eichsbeamt­er – »manche sagen ooch KOB, wisst ihr ja allet, jedenfalls wollt ick mir nur vorstellen und saren: Passt auf eure Junkies auf, Leute!«. Ein größenwahn­sinniger Ausstellun­gskurator, der geflissent­lich verschweig­t, dass er eigentlich als Sozialarbe­iter bezahlt wird. Vor allem aber die freundscha­ftlich verfeindet­en Künstler selbst: H. R. Ledigt und Karl Schmidt auf der einen, P. Immel und seine österreich­ischen Vasallen auf der anderen Seite.

Über den Kunstbegri­ff dieser Leute, die in Bands mit Namen wie Dr. Votz Krach machen, ohne ihr Instrument zu beherrsche­n oder einen umgesägten Straßenbau­m zum Werk deklariere­n, sobald sie ihn in die Galerie geschleift haben, wird trefflich gefrotzelt. Karl Schmidts Beitrag zur finalen Gruppenaus­stellung »Haut der Stadt« besteht in einer Ansammlung vernagelte­r Kisten, in deren Innerem sich die eigentlich­en Kunstwerke befänden. Von der Vernissage, die einen Großeinsat­z der Polizei auslöst, rettet Karl seine Kisten ins Freie, um aus einer – ein Bier herauszuho­len. »Das soll Kunst sein?«, will Frank Lehmann wissen. »Jetzt nicht mehr!«, weiß Karl und trinkt.

Bei Regeners Büchern weiß man vorher, was drin steckt. Aber es schmeckt immer noch vorzüglich.

Sven Regener: Wiener Straße. Roman. Galiani Berlin, 304 S., geb., 22 €.

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