Der Fluch des Geldes
Ingo Schulzes großer Schelmenroman »Peter Holtz« nimmt sich den Kapitalismus zur Brust
»Aber mein Glück hängt doch mit allem zusammen.« Das sagt Peter Holtz, die Titelfigur, auf Seite 313. Würde Ingo Schulzes Roman eines Tages auf die Bühne kommen, wäre dieser Satz im Spiel ein ganz entscheidender. Wie soll der Schauspieler ihn spielen? Schulze hat Erfahrung mit dem Theater, war er doch in der Wendezeit Dramaturg in Altenburg. Soll der Satz leise gesprochen werden, eher nebenbei? Oder laut und mit Nachdruck? Vermutlich laut, denn es ist die empörte Antwort auf Beates Ratschlag an Peter Holtz: »Du musst lernen, zu genießen und an dich zu denken und dich selbst wie einen Freund zu behandeln und nicht immer als Fahnenträger oder Geisel.« So entspannt kann Peter die Welt nicht sehen.
Als er seinen Weg im Roman beginnt – es ist der 6. Juli 1974, acht Tage vor seinem zwölften Geburtstag –, ist er ein zu früh geborener Kommunist, der die ökonomische Vision seiner Gesellschaft verstanden zu haben glaubt und das Geld nicht mehr anerkennt: »Warum soll mir unsere Gesellschaft das Geld erst aushändigen, wenn dieses Geld doch über kurz oder lang sowieso wieder bei ihr landet?« Als er 24 Jahre später vom Autor aus dem Roman entlassen wird – es ist der 1. September 1998 oder kurz danach –, verbrennt er auf dem Berliner Alexanderplatz öffentlich Geld – und zwar 1000Mark-Scheine. Sein eigenes Geld. Zu diesem Zeitpunkt der Romanhandlung ist der NeuBundesbürger durch Immobilienbesitz zum Millionär aufgestiegen. Das wurde möglich, weil er sich in DDR-Zeiten selbstlos um marode Häuser gekümmert hatte und 14 davon geschenkt bekam. Jetzt kennt er weder Mittel noch Wege, mit seinen Millionen kein Unheil anzurichten. Es ist ihm, wie er sagt, nicht gelungen, sein vieles Geld mit Anstand loszuwerden.
Ingo Schulze hat für dieses Lehrstück über den Fluch des Geldes die Form des Schelmenromans gewählt und sich dafür eine wunderbare Hauptfigur geschaffen. Sein Peter Holtz ist ein (Heim-)Kind der DDR, das alle schön klingenden Lehrbuchsätze über die Theorie des Sozialismus für wahr hält und glaubt, nach ihnen handeln und leben zu müssen. Er nimmt alles wörtlich, was seine Gesellschaft proklamiert. Aber weil er das in aller Reinheit und Unschuld tut, ist er eine zutiefst sympathische Fi- gur. Die Naiven werden am Ende die Welt retten, weil die Klugen glauben, es habe keinen Zweck. Diese Sympathie für Peter Holtz ist wichtig, denn der Leser muss dem Bericht über das glückliche Leben der Hauptfigur 576 Seiten zuhören. Im Untertitel heißt der Roman: »Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst«. Diesmal ist Schulze also nicht Herausgeber, auch nicht Erzähler, sondern Medium für seine Hauptfigur.
Das Leben von Peter Holtz, das wird bald deutlich, findet in einer eigenen Wirklichkeit statt. Dafür steht etwa seine Frage, ob die DDR darauf vorbereitet ist, die vielen West-Flüchtlinge aufzunehmen, wenn die Mauer fällt. Noch schöner ist Peters Gespräch mit einem Westberliner Stadtstreicher, dem er zwanzig Ost-Mark zuschiebt und erklärt, dass der damit in der Ost-Kaufhalle mehr Lebensmittel bekomme als mit 20 DM im Supermarkt.
Vor und hinter diesen Episoden liegt viel lustvolles Erzählen, liegen viele phantastische Einfälle. Immerhin hat der Autor fast zehn Jahre auf diesen Roman hingespart. Als Peter in der DDR keine Chance sieht, seine Solidaritätsgaben den Sandinisten in Nicaragua persönlich zu überbringen, erwägt er, einen Ausreiseantrag in die Sowjetuni- on zu stellen. In den letzten DDRJahren lässt der Autor seinen Peter der Ost-CDU beitreten – mit dem Argument: »Weil der Kommunismus nur die andere Seite des Christentums ist, verfüge ich mit dem Glauben über ein zweites Standbein!« Er wird zum Freund von Joachim Lefévre, der unschwer als Abbild von Lothar de Maizière zu erkennen ist. Außerdem erscheint Gregor Gysi als Dr. Gregor im Roman, und als Pressesprecherin der De-Maizière-Regierung tritt mit Christina Dahlmann möglicherweise gar Angela Merkel auf. Gerhard Schröder bleibt ohne Namensschminke der SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder.
Ob Ingo Schulze einen Wenderoman geschrieben hat? Das ist die große Frage. Ich denke, dass er dies bereits 2005 mit »Neue Leben« tat. In »Peter Holtz« hat er das zeitgeschichtliche Material der Friedlichen Revolution, ihrer Vorgeschichte und der deutschen Einheit als Untersuchungsfeld für ein anderes Thema genommen, nämlich für die Wirkung des Geldes. Dabei hat er gar keine andere Wahl, als dessen unheilvolle Wirkung dem Kapi- talismus auf die Rechnung zu setzen. Es geht Ingo Schulze durchaus nicht durchweg um die Illustration der Wahrheit meiner Großmutter: Geld macht nicht glücklich. Als Essayist und Publizist war er immer um einiges genauer und deutlicher. Er drückt sich nicht um die Formulierung des Gedankens: Geld macht den kaputt, der es nicht hat, und den, der es hat. Einen Schelmenroman darf der Autor ohne Kitschverdacht mit der Apotheose pathetischer Geldverbrennung beenden. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Jedes Lob macht sich verdächtig, ließe es nicht auch Platz für Kritik. Je näher der Roman dem Wende-Herbst und Einheits-Frühling kommt, desto mehr wird die Naivität von Peter Holtz strapaziert. Der Schelm droht in den Turbulenzen der Zeitgeschichte zu verschwinden. Plötzlich bekommt die Figur viel Historie zu tragen. Hinzu kommt, dass der Roman gegen Ende in die Arme eines Autors treibt, der damit ein Experiment vorhat: Kann man vielleicht doch das Geld beherrschen und einsetzen für gute Taten?
Sehr langatmig sind dazu Passagen, in denen der Galerist Peter Holtz seinen Versuch ausbreitet, Preise für Kunstwerke zu manipulieren. Dem einen Künstler zum Vorteil, dem anderen nicht. Und je mehr Figuren in den Roman drängen – manche sind dann nur noch Namen –, desto mehr Dialoge finden statt. Schon Schulzes Roman »Adam und Evelyn« von 2008 ging unter der Hand immer mehr vom Erzählen ab und bot fast nur noch Dialoge. Es plappert auch in »Peter Holtz« gelegentlich.
Was Ingo Schulze mit seinem neuen Roman gelungen ist, erscheint beachtlich, weil es in einem literarischen Umfeld stattfindet. Welch ein Einfall, seine Hauptfigur im Herbst ’89 für ein paar Monate aus dem Roman zu nehmen. Peter wird von einem Auto angefahren und fällt ins Koma. Auf diese Weise kann der Autor ihm seine Naivität erhalten: Er bekommt nichts von dem mit, was wirklich passiert ist und erklärt beim Erwachen sofort, dass »die Konterrevolution sich der Revolution bemächtigt« habe. In der Wahrheit der Figur – und die beugt Ingo Schulze an keiner Stelle – liegt dann der Zorn des Peter Holtz, dass es von nun an für die Menschen wohl nur noch darum gehe, »besser als der andere zu sein, zu fressen, statt gefressen zu werden«.
Und wofür?, fragt Peter Holtz, der Schelm, in einer harschen Ansprache an den Leser. »Um mehr und noch mehr Geld und Besitz anzuhäufen.«
Ingo Schulze: Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst. Roman. S. Fischer, 576 S., geb., 22 €.