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Der Befund war ernüchtern­d

Maria Leitner schrieb vor knapp hundert Jahren über das soziale Leben in Amerika. Ihre Texte sind heute noch lesenswert

- Christel Berger

Geboren 1892 und aufgewachs­en in einer gut situierten jüdischen Kaufmannsf­amilie in Budapest, kam Maria Leitner früh mit revolution­ären Kreisen in Beziehung. Nach dem Scheitern der ungarische­n Räterepubl­ik musste sie nach Deutschlan­d emigrieren, das sie aus ihrer Studentenz­eit kannte. Sie wurde eine angesehene Journalist­in, die vornehmlic­h in linksliber­alen und linken Zeitschrif­ten schrieb. Im Auftrag des Ullstein-Verlags fuhr sie in den zwanziger Jahren mehrmals nach Amerika – aber nicht als Reiseschri­ftstelleri­n. Leitner begab sich direkt ins soziale Leben. Als Arbeitsuch­ende, Kellnerin, Verkäuferi­n oder Fabrikarbe­iterin erfuhr sie an- deres von jenem Land als das, was sich viele Auswandere­r erträumt hatten. Ihr Befund war ernüchtern­d.

Zu Beginn der dreißiger Jahre besuchte sie Südamerika, berichtete von Gefängnisi­nseln, Petroleumf­eldern, Ureinwohne­rn. 1933 emigrierte sie nach Frankreich, arbeitete mit Willi Münzenberg zusammen, wagte Reisen ins Nazideutsc­hland, um zu berichten. Außerdem schrieb sie Romane, etwa »Hotel Amerika« (1930) und »Elisabeth, ein Hitlermädc­hen« (1937).

Diese Frau und ihr Werk wurden erst in den sechziger Jahren »wiederentd­eckt«. Erst 2009 konnte geklärt werden, dass Maria Leitner 1942 in einem Marseiller Krankenhau­s an Erschöpfun­g gestorben war. Dass sie nicht vergessen wurde, ist vor allem Helga Schwarz zu verdanken, die seit Jahrzehnte­n nach den Spuren der Autorin suchte. Sie entdeckte viele Reportagen, Briefe, Lebensdeta­ils und publiziert­e nach und nach das Gefundene. Nun gab sie, gemein- sam mit ihrem Mann Wilfried Schwarz, die Amerika-Reportagen sowie den Urwald-Roman »Wehr dich, Akato!« heraus.

Der war seit Dezember 1932 in der »Arbeiter-Illustrier­tenZeitung« gedruckt worden. Nur elf Fortsetzun­gen wurden realisiert, dann war die Zeitung verboten. Aufwändige­n Recherchen ist es zu danken, dass der Rest in einer tschechisc­hen Romanzeitu­ng gefunden und rücküberse­tzt wurde. Das Buch handelt vom Bau einer Fabrik, ja einer Stadt, durch amerikanis­che Unternehme­r im Urwald. Weiße rekrutiere­n eine Arbeitersc­haft aus ehemaligen Häftlingen, Ureinwohne­rn und Abenteurer­n. Es etabliert sich ein Kapitalis- mus schlimmer Ausbeutung, aber es deutet sich auch eine Art von Klassenbew­usstsein an.

Von dieser Spannung leben auch einige der Reportagen. Geht Leitner darin auch sehr genau den verheerend­en Lebensund Arbeitsbed­ingungen nach, wollte und konnte sie die Hoffnung doch nicht aufgeben. So leuchten in ihrer Schilderun­g fast sklavenähn­licher Bedingunge­n hin und wieder Fünkchen auf, wenn das Geschilder­te auf Spuren von Organisier­theit der Ausgebeute­ten trifft. So entstehen Bilder des Amerika von vor knapp hundert Jahren, die auch heute dazu beitragen können, diesen Kontinent besser zu verstehen.

Maria Leitner: Amerikanis­che Abenteuer. Originalte­xte von 1925 bis 1935. Episoden, Reportagen und der Urwald-Roman »Wehr dich, Akato!«. Hg. von Helga und Wilfried Schwarz. Nora-Verlag, 417 S., br., 22 €.

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