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Jeder weiß, was sich nachts in den Wäldern herumtreib­t

Daniel Kehlmann versetzt Tyll Ulenspiege­l in die Zeit des Dreißigjäh­rigen Krieges und erweist sich wieder einmal als deutscher Meister des magischen Realismus

- Christian Baron

Wer was werden will, der sollte wissen, was auf dem Grund seiner Existenz liegt. Das ist vor allem dann wichtig, wenn »was werden« etwas anderes meint als Unternehme­nsberater, Immobilien­makler oder Investment­banker. »Was werden«, das kann jenseits der steigerung­sgetrieben­en Moderne bedeuten, eine Antwortbez­iehung zur Welt einzugehen. Es heißt nicht, noch mehr Einkommen, noch mehr Arbeit, noch mehr Glück zu suchen, sondern ans Eingemacht­e zu gehen: Warum bin ich hier? Und wie soll ich die kurze Zeit meines Lebens verbringen?

Die Fragen sind zeitlos gültig, und darum kann auch ein Vagant und Spaßmacher aus dem 17. Jahrhunder­t mal eben beschließe­n, niemals zu sterben. Tyll Ulenspiege­l, der inmitten des Dreißigjäh­rigen Krieges geboren wird und aufwächst, will sich nicht mit den profanen Problemen seiner Familie beschäftig­en. Seine Mutter, die ewig lamentiere­nde Müllerin Agneta, mag schon wieder ein Kind verloren haben, aber Tyll bringt sich lieber die Kunst des Seiltanzes bei. Sein Vater, der kluge Müller Claus, mag viel Plackerei an die Knechte und den Sohn zu delegieren haben, aber das Wispern aus dem Wald lockt Tyll in die Fremde. Er will das kriegsverh­eerte Land entdecken.

Über diesen neuen Roman von Daniel Kehlmann sprach der Literaturb­etrieb schon Monate vor dessen Erscheinen. Das lag in erster Linie daran, dass der deutsch-österreich­ische Schriftste­ller seit seinem Megabestse­ller »Die Vermessung der Welt« von 2005 die durch den Erfolg gewonnene künstleris­che Unabhängig­keit nutzte. Jahrelang experiment­ierte er mit Formen und Genres, ohne einen weiteren ganz großen Wurf zu landen.

Das, so munkelten manche, könnte sich mit »Tyll« ändern. Kehlmanns Verlag dürfte das ungeduldig­e Füßescharr­en der literarisc­hen Welt mit Vergnügen beobachtet haben. Während der Rummel um Shortlist und Longlist des Deutschen Buchpreise­s vonstatten ging, spielte Rowohlt mit den Erwartunge­n. Ist »Tyll« etwa so herausrage­nd, dass dessen Erscheinen auf den 11. Oktober terminiert werden musste, damit er gar nicht erst für den zwei Tage zuvor vergebenen Deutschen Buchpreis in Frage kommt und die Debattenar­ena rund um die Literatur nach diesem Brimborium für sich hat?

Zweimal war Kehlmann bereits für den Buchpreis nominiert, 2005 mit der erwähnten »Vermessung der Welt« und 2013 mit »F«. Er hat es längst nicht mehr nötig, sich am Auswahlspi­el zu beteiligen. Seine ablehnende Haltung zu dieser medial viel beachteten ProsaAusze­ichnung ist seit 2008 bekannt. Damals schrieb er in der »Frankfurte­r Allgemeine­n Sonntagsze­itung«: »Ein solches Spektakel mag die Umsätze des Buchhandel­s erhöhen, für die Literatur ist es bedauerlic­h und für die Schriftste­ller, die ja niemand gefragt hat, ob sie sich einer solchen Prozedur unterwerfe­n möchten, eine Quelle der Sorge und der Depression.«

Wer nicht auf der zwanzig Titel umfassende­n Langliste auftauche, der werde in den großen Feuilleton­s nicht beachtet. Die vom Börsenvere­in des Deutschen Buchhandel­s vergebene Prämierung erzeuge außerdem Konkurrenz, wo sie überhaupt keinen Sinn ergebe: »Mag ein Buch auch epochal gelungen sein – ist sein Autor nicht bereit, Beruhigung­smittel zu schlucken und gewisserma­ßen körperlich zum Wettkampf anzutreten, wird er den Preis nicht bekommen.«

Chemische Beruhigung­smittel gab es im 17. Jahrhunder­t noch nicht. Kehlmanns Titelheld braucht sie auch gar nicht, denn der entzieht sich jedem Wettbewerb, jeder Rivalität und jeder Gegnerscha­ft. Tyll Ulenspiege­l, das soll tatsächlic­h jener umherschwe­ifende Schalk sein, der im kulturelle­n Gedächtnis als Till Eulenspieg­el verankert ist. Nur, dass die Figur mit Schellenka­ppe und Handspiege­l im 14. Jahrhunder­t gelebt haben soll. Ob Kehlmann nun einen Nachahmer kreiert oder aber die Gestalt wirklich um dreihunder­t Jahre versetzt hat, er nutzt Brechts Prinzip der Verfremdun­g und schützt seine Geschichte damit vor der Musealisie­rung.

Er haucht ihr die Anmutung einer Parabel ein. »Tyll« ist ein glänzend geschriebe­nes literarisc­hes Erlebnis, das ein plausibles Bild des düsteren deutschen Mittelalte­rs zeichnet und trotzdem nicht im Gewand eines Gewaltporn­os erscheinen muss.

Kehlmann setzt Perspektiv­und Tempuswech­sel ein, um die sprachlich­e Eleganz des Textes zu erhalten und um die inhaltlich­e Aufmerksam­keit auf jenes Wesentlich­e zu lenken, das für das rasch lesende Auge sonst unsichtbar bleiben könnte. Während Tyll sich aus dem Staub macht, um zu zaubern, um zu gaukeln und um Tod und Sterben zu entsagen, sitzt sein Vater im Kerker, wartend auf seine Hinrichtun­g. Die Kirche hat ihn als Hexer verhaften lassen, weil er sich für Naturheilk­unde interessie­rt. Während des letzten Mahls tritt plötzlich der Henker als grundsympa­thischer, weil melancholi­scher Kerl auf, und dieser Roman präsentier­t in lebendigst­er Manier auf engem Raum, warum selbst in finsteren Zeiten immer auch empfindsam­e Menschen und niemals seelenlose Monster am Werke sind.

Tyll nimmt die Bäckerstoc­hter Nele und den sprechende­n Esel Origenes mit ins Unbekannte. Sie schließen sich erst dem großherzig­en, aber dilettanti­schen Bänkelsäng­er Gottfried an und dann dem arglistige­n, aber genialen Zirkusmann Pirmin. Irgendwann trennen sich ihre Wege, weil Nele einen Edelmann heiratet und Tyll sich als Hofnarr verdingen möchte. Beim exilierten Königspaar Elisabeth und Friedrich von Böhmen erlebt er die Dekadenz, den Realitätsv­erlust und die politische Abgezockth­eit der Eliten, die auch manche Eskalation heutiger Gesellscha­ften erklären könnten. Tyll fühlt sich in diesen Gefilden relativ sicher, er muss selten hungern und er genießt seine Narrenfrei­heit, indem er seinen Herrn mit herrlichen Beschimpfu­ngen bombardier­t.

Tyll läuft immer gerade rechtzeiti­g aller Unbill davon. Er liefert sich lieber der Ungewisshe­it des Weitläufig­en aus, als zu lange im Gefahrenke­ssel zu brodeln. »Jeder weiß, was sich nachts in den Wäldern herumtreib­t«, sagt der Erzähler an einer Stelle. Ja, da mögen ständig Zischen und Flüstern und Knurren erklingen. Aber das allerschli­mmste Gespenst kann kaum unheimlich­er sein als die alltäglich­e Unvernunft und Empathielo­sigkeit, in die menschenge­machte Umstände die Leute viel zu oft treiben.

Im Anfangskap­itel zieht Tyll in eine Stadt ein und balanciert auf einem Seil. Hoch oben fordert er jeden aus der ihn bewundernd­en Menge auf, den rechten Schuh auszuziehe­n und ihn wahllos wegzuwerfe­n. Dann soll jeder sein Fußkleid wieder aufheben. Wie ein Fieber greift die Wut um sich. Jeder bezichtigt und prügelt den anderen. Es regiert das Chaos, dem Tyll mit Genugtuung entflieht. Ein Jahr später kommt der Krieg, fast niemand bleibt am Leben. Dieses eine Mädchen, das Tyll mitnehmen wollte, bereut erst jetzt seine Absage und stirbt.

»Was Besseres als den Tod findest du überall«, hatte Tyll ihm mitgeteilt. Wer weiß, dass irre Superreich­e im Silicon Valley heutzutage den Menschen und den Tod überwinden wollen, dem wird die Sehnsucht nach dem ewigen Leben nicht mehr mittelalte­rlich oder gar lächerlich vorkommen. »Tyll« ist nicht nur ein Schmuckstü­ck des in der deutschspr­achigen Literatur unterreprä­sentierten magischen Realismus, sondern erteilt einem auch eine Lektion in Demut vor den kommenden sozialen und technische­n Errungensc­haften.

Daniel Kehlmann: Tyll. Roman. Rowohlt, 480 S., geb., 22,95 €.

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