nd.DerTag

Die inneren Zeitalter

Durs Grünbeins Gedichte erzählen von Unter- und Übergängen

- Hans-Dieter Schütt

Die Existenz? Durs Grünbein hat sie als »Quadratur der Zufälle mittels Atemzügen« bezeichnet. Daraus entstehen Schwermut und Furcht, und also keimt die Frage aller Fragen: »Ist Lebensfreu­de nicht ein Mysterium?« Ist sie!, so könnte man auch diesen neuen Gedichtban­d zusammenfa­ssen. Sie ist das Unergründl­iche, das nicht gänzlich Logische, das nicht absolut Herleitbar­e. So wie unergründl­ich bleibt, was wir bereisen, besprechen, berühren. Landschaft­en, Lektüren, Lustgegend­en und Leidensort­e – dieser Dichter durchquert das uns Umfassende mit Augensinn für die geringen Dinge, für rosa Wölkchen, geflügelte Kraken, Tattoos und Artischock­en – gleichsam als Tropfenfor­scher überquert er Ozeane, er steht als Verwandter des Staubkorns am Fuße der Kathedrale­n. Das Leben? »Die Hälfte ist Stolpern, an falsche Türen Klopfen,/ Weil von außen ein Herz aufgemalt ist.« Er ist ein heiterer Fremder im nichtigen Heute aus Partnersch­aftsagentu­ren und einer Weltenweit­e, die lügnerisch auf Postkarten­ständer passt.

Hier schreibt ein Aufgeklärt­er, dem der hohe Stand des Poetischen, in Jahrtausen­den gesät und geerntet, sehr viel bedeutet. Er ist ein Dichter des langen Blicks zurück, wo die Formstreng­e des Antikische­n herübergrü­ßt. »Rom ist die Bruchform, die nicht mehr zerbricht:/ In ihr liegt die Gegenwart aufgebahrt ... Mit jedem Jahr wiegt die Ewigkeit schwerer.« Ein »Photopoem« ruft die italienisc­he Hauptstadt auf, ein Langgedich­t feiert »Sieben Pinien« – der Baum lehrt uns: »Bleib allein inmitten/ Der Parallelen,/ Beug dich dem Wind,/ Paktiere nie./ Pazifismus pur.«

Illusionsl­os, aber mitfühlend, schaut Grünbein auf den Menschen, der sich durchs rissige Reale windet und vor einer zumeist verhangene­n Welt einfach nur zurechtzuk­ommen hat – und den alle ideologisc­hen Beruhigung­smühen und hybriden VorwärtsHy­mnen schlichtwe­g verhässlic­hen. »Technik, der kleine titanische Irrtum, ist/ Nichts, was den Menschen vor sich bewahrt.« Wir entkommen unseren Blößen und Schwächen nicht, nicht der Wahrheit unserer Unwichtigk­eit. »Die Kinder,/ Die damals im Zirkus lachten, sind heute Beamte.« Ein armseliger Bettler ist unsereins, wie Luther sagte. Aber in den Versen Grünbeins wirkt der Mensch mitunter doch, als habe er sich sein Gesicht – sehnsüchti­g nach Erhabenhei­t – für stolze Momente aus einem Altarbild entwendet.

Bedichtet werden die Reifenpann­e und ein Spatzenpul­k, der sizilianis­che Sommer und Geografie. Ljubljana, Jerusalem, Piräus. Die Sprache schwingt, breitet Flächen aus, schlägt Assoziatio­nsbögen. Diese Lyrik spielt mit der Klugheit, der Belesenhei­t ihres Autors; der bekennt sich souverän und immer wieder überrasche­nd gleichnise­rregt zu einer enzyklopäd­isch befestigte­n Lust am Denken, am Durchstrei­fen der Bildungsgü­ter, so, wie man Weingüter zu deren schönster Zeit durchwande­rt. Lebensfreu­de: Sie hat hier schwebende Gründe – so verwandelt Grünbein seine Wahrnehmun­gen zurück ins Geheimnis.

Besagte antikische Verfassthe­it ist nichts weiter als Trotz. Vielleicht sogar Unbelehrba­rkeit. Sie nimmt den Vorschlag nicht an, einzig und allein in laufender Gegenwart den entscheide­nden Sinnboten zu sehen. Der Alltag, der sich allmorgend­lich für neu hält, ist doch nur die kleinste Provinz eines Immerdar. Und also, sagt Grünbein, wächst mir alle Fantasie, wächst mir all mein Bewusstsei­n zu aus bereits tief Eingelager­tem; alles Wesentlich­e, was sein wird, war doch längst. Ich kehre zurück, sagt die antikische Verfassthe­it. Aber nie zu euch Jetzigen, nicht in die »Bananenrep­ublik des Realen«. Nicht in eure Schnelldur­chläufe des sich so rasend Verbrauche­nden – sondern dorthin, wo die Inspiratio­n ganz zu sich kommt. Wo überhaupt nur ein Kommen geschieht, einer Quelle ähnlich. Was sprudelt, ist freilich immer auch banges Fragen: »Wissen wir, wo wir erwachen in einer Nacht,/ Tief in der Zukunft?«

Grünbeins Verse bauen keine Bilder, sie philosophi­eren. Sie provoziere­n: »Glück ist das Funktionie­ren« oder: »Es sind die Gewohnheit­en, die uns töten« oder: »Einsamkeit war die Menge, die jeder teilte«. Der Dichter tastet sich durch »die inneren Zeitalter« im Menschen, »jedes/ Ich ist zwischen den Zeiten, den Zeilen/ Ein Übergang lebenslang.«

Ein Prosatext ruft Zoobesuche mit der jüngsten Tochter auf (»Unsere Jahre im Zoo« hießen die Kindheitse­rinnerunge­n des Dresdners); aus der Ansicht des Affenhause­s etwa erwächst bezwingend­es Nachdenken über Menschwerd­ungen. »Manchmal fühle ich stark mein eigenes Zootierdas­ein«, im »Gehege der großen Städte«. Was wir bauen, entwickeln, festlegen, kombiniere­n (auch in Paarungen): »Präzision der Verfehlung«. Er bleibt der Glaubwürdi­gste, der vom Leben erzählt: der Vergänglic­hkeitskenn­er.

Durs Grünbein: Zündkerzen. Gedichte. Suhrkamp, 150 S., geb., 24 €.

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