Fest des Lebens und des Todes
Zurab Karumidze erinnert uns an die schöne Norwegerin Dagny Juel
Die »Femme fatale« ist eine in Mythologie, Kunst und Literatur beliebte Figur: von der biblischen Eva über die klassische Helena, die mittelalterliche Melusine bis zu Heines Loreley und weiter über Zolas Nana, Wildes Salome. Und im Film hat sie Hunderte von Darstellerinnen gefunden. Sie ist überirdisch attraktiv, bringt Männer um ihren Verstand und wirkt »schicksalhaft« auf deren Verderben hin.
Eine reale Femme fatale, die einst vor allem in Berlin Furore machte, war die Norwegerin Dagny Juel. Sie war Schriftstellerin und Pianistin, stand Edvard Munch Modell für seine »Madonna«, war dann die Geliebte von Johan August Strindberg, den sie in die Nervenheilanstalt brachte, und heiratete 1893 den polnischen Schriftsteller Stanisław Przybyszewski, von dem sie zwei Kinder bekam. Dieser Kreis der Bohème, zu dem auch Richard Dehmel und weitere Künstler zählten, traf sich seinerzeit in Berlin im Gasthaus »Zum Schwarzen Ferkel« Unter den Linden. Dagny Juel gehörte dazu, begeisterte die Männer, trank und schlief mit ihnen. Ihr Ehemann Przybyszewski trennte sich von ihr, schickte sie mit einem von ihm bezahlten Freund auf Reisen bis nach Tiflis in Georgien. Dieser nicht zu Dagny vorgelassene Verehrer ermordete sie 1901 aus Eifersucht und tötete danach sich selbst.
Aus diesem filmreifen Stoff hat Zurab Karumidze einen Roman komponiert, der weit über die realen Ereignisse hinausreicht. Er ruft georgische Kulturgeschichte auf und spinnt dazu ein Netz aus europäischen und asiatischen Fäden, welche die von Georgien bis heute reklamierte Brückenstellung zwischen Europa und dem Mittleren und Fernen Osten belegen. Da treten Schamanen aus Mythologie und Literatur neben Johann Sebastian Bach oder Frédéric Chopin auf, da werden Bilder wie das »Frühstück im Grünen« von Manet als ein Abbild von Dagny Juel neu interpretiert oder Madame Bovary als »Schwester« erweckt. Vor allem holt der Autor die gesamte georgische Literatur aus früher Zeit in die Gegenwart.
Das Nationalepos »Der Recke im Tigerfell« von Schota Rustaweli ist über 800 Jahre alt und wurde zum Weltdokumentenerbe erklärt. Der georgische Dichter Wascha-Pschawela und der griechisch-armenische Esoteriker und Begründer des sogenannten »Vierten Weges« treten im Roman ebenso als handelnde Personen auf wie, unter seinem Tarnnamen Koba, der junge Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili , der sich später Stalin nannte. Dazwischen verwirrt Dagny auch in Tiflis die Männer, feiert ein Fest der Liebe nach dem anderen, bevor ihr Leben endet.
Karumidzes Roman enthält eine Fülle von Bezügen und Textarten. Hintersinnige, fantasy-artige Nonsens-Passagen wechseln mit Bausteinen aus Werken von Dagny Juel, die aus dem Norwegischen für dieses Buch von Lars Brandt übersetzt wurden. Da gibt es musiktheoretische Erörterungen, die mit Nachdenklichkeiten über Ursprung und Wesen der georgischen Sprache oszillieren. Sexuell aufgeladene Passagen beschwören die Wechselwirkung von Thanatos und Eros. Das von der georgischen Schwarzmeerküste geraubte Goldene Vlies steht zur Decodierung an, und die multinationale, ins polyglotte gesteigerte Gesellschaft von Tiflis um die Wende zum 20. Jahrhundert glänzt in Vielfalt und gegenseitigem Respekt. Georgien wird 2018 Ehrengast der Frankfurter Buchmesse sein. Es gibt keine anspruchsvollere Einstimmung darauf als dieses Buch.
An wichtigen Stellen helfen Fußnoten zum Verständnis der zuweilen undurchschaubaren Zusammenhänge. Manche Metaphern aus Mythologie und Literatur bedürften weiterer Erklärung. Der Roman ist somit zugleich rätselhaft als auch aufklärend. Wer sich auf seine Vielfältigkeit einlässt, wird sie und das Zusammenspiel ihrer Bestandteile schätzen. Auf alle Fälle ist es ein Gewinn, Dagny Juel kennenzulernen.
Zurab Karumidze: Dagny oder Ein Fest der Liebe. Roman. A. d. Engl. v. Stefan Weidle. Weidle Verlag, 280 S., br., 23 €.