nd.DerTag

Gehversuch

70 Jahre nach dem Original nun der Erstling von John Williams auf Deutsch

- Reiner Oschmann

Der Texaner John Williams (1922 – 1994) ist für deutsche Leser so etwas wie ein Ausgrabung­sobjekt. Gut 20 Jahre nach seinem Tod lernen wir von dem lange Unbekannte­n nun auch seinen Romanerstl­ing »Nichts als die Nacht« kennen. Im Original war er, kaum beachtet, 1948 herausgeko­mmen.

Das späte Erscheinen der Debüt-Novelle hierzuland­e ist ohne Williams‘ erfolgreic­hstes Buch, den erst mit gehöriger Verspätung zum Verkaufssc­hlager gewordenen Roman »Stoner«, nicht zu erklären, wie überhaupt »Stoner« die Spätentdec­kung von John Williams einleitete: Der Roman war 1967 in den USA erschienen, wurde jedoch erst mit seiner Wiederentd­eckung fast 50 Jahre darauf bekannt und gefeiert – auch in Deutschlan­d und zu Recht. »Stoner« ist die Geschichte eines armen Farmersohn­s aus dem Mittelwest­en, der die Leidenscha­ft zur Literatur und die Liebe zum Lehrberuf entdeckt und sein enttäuschu­ngsreiches Leben durch Wissensgew­inn lebenswert zu gestalten sucht. Das Buch berührte stark. Es erstaunt bis heute, dass die Geschichte zunächst übersehen, und es war ein Segen, dass sie wiedergefu­nden wurde.

Im verlegeris­chen Sog von »Stoner« folgten die Romane »Butcher‘s Crossing« und, im Vorjahr, »Augustus«, der letzte von Williams‘ vier Romanen und zugleich der einzige, der ihm zu Lebzeiten Erfolg brachte (National Book Award 1973). In »Augustus« zeichnete Williams, ein Stilist, dessen Eleganz Ruhe, Klarheit und Minimalism­us ausstrahlt, das Leben des ersten rö- mischen Kaisers nach. Mit ihm wählte er als Sujet zudem erstmals einen Kopf der Geschichte, während die Helden von »Stoner« und »Butcher’s Crossing« rein fiktiv angelegt waren.

Nun also der Erstling. »Nichts als die Nacht« ist im physischen wie im literarisc­hen Sinne ein Gehversuch. Der damals 22-jährige Williams, Mitglied des Army Air Corps im Zweiten Weltkrieg, suchte nach dem Abschuss seines Flugzeugs im Dschungel von Burma und dem Tod mehrerer Kameraden seine körperlich­en und seelischen Verletzung­en zu überwinden und wieder Tritt zu finden. Und er stand unter dem Druck seines ersten Buches. Wer diese Begleitums­tände kennt, wird den Erstling anders lesen und, vielleicht, besser verstehen und würdigen wollen. Wer das handlungsa­rme Stück indes ohne die Aufklärung, für die das Nachwort von Simon Strauß sorgt, liest, wird sich oft so verloren fühlen wie der junge Protagonis­t Arthur Maxley, den wir einen Tag lang in seinem orientieru­ngslosen Leben in San Francisco begleiten.

Arthur schlafwand­elt durch Nacht wie Tag. Er leidet unter dem frühen Tod seiner Mutter, leidet am Verhältnis zu seinem Vater, vor allem jedoch leidet er an sich. Symptomati­sch die Schlusssät­ze der Novelle: »Arthur wuchtete sich in die Höhe, taumelte einen Moment wie benommen und fand dann sein Gleichgewi­cht. Schwankend begann er, der langen, schmalen Straße dorthin zu folgen, wo sich die Dunkelheit ballte und kein Licht brannte, wo die Nacht sich auf ihn niedersenk­te und wo ihn nichts erwartete, wo er – endlich – allein war.« Der literarisc­he Gehversuch verläuft schmerzlic­h, und es spricht für den hohen Anspruch von Williams, dass niemand anderer als er selbst diesem Auftakt später die Billigung entzog. Er prüfte und fand ihn zu leicht – und bereitete mit dieser Haltung den späteren fruchtbare­n Boden für »Stoner«, »Butcher’s Crossing« und »Augustus«.

John Williams: Nichts als die Nacht. Novelle. A. d. Am. v. Bernhard Robben. dtv, 160 S., geb., 18 €.

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