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Wie es hätte sein können

Rodrigo Hasbún erzählt die tragische Familienge­schichte um Hans Ertl, der Leni Riefenstah­l und Erwin Rommel als Kameramann diente

- Christian Baron

Im Kino und in der Literatur häufen sich die künstleris­chen Auseinande­rsetzungen mit realem Hintergrun­d. Immer mehr Filmtraile­r teilen mit, das beworbene Werk basiere auf einer wahren Begebenhei­t. Immer mehr Bücher erscheinen, denen das stattgefun­dene Leben der Protagonis­ten ein Anlass ist, jene Geschichte zu erzählen, die so hätte stattfinde­n können. Das gelingt mal besser und mal schlechter. Zu den guten Romanbiogr­afien zählen oft solche, deren Autor sich nicht zum paternalis­tischen Deuter einer Existenz macht, von der sich im Nachhinein so leicht sagen lässt, an welchen Gabelungen welcher Weg der richtige gewesen wäre.

Der bolivianis­che Schriftste­ller Rodrigo Hasbún hat sich in dieser Hinsicht auf ein besonders heikles Terrain gewagt. In seinem Roman »Die Affekte« begibt er sich auf die Spuren des Hans Ertl (1908 – 2000). Der war Bergsteige­r, Kameramann, Kriegsberi­chterstatt­er, Regisseur, Farmer, Autor – und NaziSympat­hisant.

Als Kameramann entwickelt­e er vor allem bei den Olympiafil­men von Leni Riefenstah­l neue Techniken, mit denen er etwa den Flug eines Skispringe­rs nachempfan­d. Nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde er von der Wehrmacht in dieser Funktion einberufen und entwickelt­e sich während des deutschen Vernichtun­gsfeldzugs zum bevorzugte­n Kameramann des sogenannte­n Generalfel­dmarschall­s Erwin Rommel.

Schreiben ließe sich da ganz wunderbar eine furiose Abrechnung mit einem Verfemten, eine Tirade gegen die Kollaborat­ion, ein Plädoyer für eine engagierte Kunst, die sich niemals von einer schlechten Idee vereinnahm­en lassen dürfe. Daraus könnten samt und sonders bestseller­taugliche Aufrüttelu­ngswerke entstehen.

Hasbúns Zugriff auf das Thema ist subtiler, cleverer, schöner: Er erzählt die Geschichte der Familie Ertl, die auf ihre ganz eigene Weise zutiefst unglücklic­h gewesen ist.

»Nichts war, wie wir es kannten (es gab bettelnde Kinder, Indios, die riesige Lasten auf dem Rücken trugen, unfertige Häuser allenthalb­en), und insgesamt wirkte alles marode und schmutzig.« Da spricht nicht der Vater, sondern eine seiner drei Töchter, aus deren Perspektiv­e das Buch in fragmentar­ischen Kurzkapite­ln erzählt ist. Die Familie wandert sieben Jahre nach Kriegsende nach Bolivien aus, wo Hans Ertl große Dokumen- tarfilmexp­editionen plant, mit denen ihm ein Comeback gelingen soll. Ihm, der in diesem Roman nur eine Nebenfigur ist, fällt nicht auf, wie sich seine Familie auflöst.

Seine Töchter scheitern auf ihre jeweils individuel­le Art an einem Leben, das der Vater kaum mitbekomme­n will. Heidi stürzt sich in eine freudlose Liaison mit dem Draufgänge­r Rudi. Trixi teilt sich eine Zigarette mit der Mutter und hadert mit ihrem zum Scheitern verurteilt­en Dasein. Monika, die berühmtest­e ErtlTochte­r, will ihre Guerillaka­mpfgenosse­n auf dem väterliche­n Anwesen verstecken und stößt damit beim Hausherrn auf eisige Ablehnung.

Das sind Episoden, Momentaufn­ahmen, Schlaglich­ter. Bisweilen leidet die Verständli­chkeit am Bruchstück­haften, ohne dass das Kunstvolle einen ästhetisch­en Mehrwert schafft. Dank Hasbúns Sprache – vorzüglich ins Deutsche übertragen von Christian Hansen – vermittelt dieses kleine Werk mit seinen 140 Seiten aber den Eindruck, fünf Menschen näher kennengele­rnt zu haben als manche Bekanntsch­aft aus dem echten Leben. Mag vorab der Wunsch da gewesen sein, Historiens­chinken zu wälzen, um zu erforschen, wie es in Wahrheit war, nach der Lektüre dieses Buches braucht es das wahrlich nicht mehr.

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