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»Um Mitternach­t wollt ein Stern ich sein«

Amanda Aizpuriete ist eine große Dichterin – und eine mutige Frau

- Irmtraud Gutschke

»Lesen wirst dus« – so beginnt das erste Gedicht dieses Bandes, den ich als eine Sammlung leidenscha­ftlich melancholi­scher Liebesgedi­chte empfinde. Ein »Du« kommt immer wieder vor. Unwillkürl­ich stellt man sich einen Adressaten vor: einen Mann, der Glück schenkte, aber niemals bleiben konnte, der immer wieder fern war, womöglich anderswo gebunden. Und wenn er kommt … »Zum Abend plant ich Schweigen/ um Mitternach­t wollt ein Stern ich sein.« Jedem Leser steht es frei, sich eine Geschichte auszudenke­n. Es ist ein Reiz dieser Gedichte, dass sie dazu einladen, wobei wir nicht wissen, ob sie uns nicht auch narren.

»Wenn ich schreibe, existiere ich in einer anderen Dimension«, hat Amanda Aizpuriete einmal in einem Interview gesagt. »In dieser Dimension überlebe ich auch die Leidenscha­ften. Ich bin von ihnen erfüllt. Meine Gedichte sind sehr emotional. In meinem alltäglich­en Leben habe ich sehr oft keine Emotionen mehr …« Wie viel Mut zu solcher Aufrichtig­keit gehört! Sich selbst erkennen und das auch noch einem Fremden gegenüber äußern! Aber wer solchen Mut nicht hat, kann eigentlich kein Dichter sein. Es gibt einen Punkt, wo man sich zwischen Leben und Dichtkunst entscheide­n muss. Auch für eine Mutter von vier Kindern. »Ich wäre viel glückliche­r, wenn ich nicht schriebe. Aber ich habe keine Wahl.«

Aus dieser Situation gewinnen Aizpuriete­s Texte ihre Kraft. Sie klammert sich an Sprache. Also muss Sprache fest und genau sein, tragfähig, damit die Dichterin durch sie über Abgründe kommt – reale oder solche der Seele, die ebenso wirklich sind. Vielleicht bedrängend­er noch. So behalten diese Gedichte bei aller Direktheit auch etwas Rätselhaft­es. Eine Liebesgesc­hichte? Mehrere? Oder vor allem die Flucht in eine andere Dimension, dorthin, wo es den Tod nicht gibt?

»Was spielt sich ab? – Ein hoffnungsl­oses Wunder./ Wohin jetzt? – Den Scheinwerf­er ausschalte­n./ So liebe ich dich, wie die Dämmerung liebt,/ Zärtlichke­it gibt deinem Gesicht.« Jede Leserin, jeder Leser suche das Ihre/das Seine aus diesen Gedichten heraus, die ihr/ihm eine Entdeckung sein mögen. Der Band »Die Untiefen des Verrats« ist bereits 1993 bei Rowohlt erschienen. Nun hat der kleine Schweizer Verlag Ink Press ihn noch einmal aus dem Berg fast schon wieder verges- sener Literatur hervorgeho­lt – in einer neuen Reihe, die sich »tadoma« nennt.

Tadoma? Durch dieses System von Berührunge­n kann man Blinden, die zugleich gehörlos sind, das Sprechen lehren. Berührunge­n: Ja, Aizpuriete­s Gedichte leben davon, was sie in uns auslösen.

Aizpuriete, die in Jurmala lebt, hat in Manfred Peter Hein einen kongeniale­n Übersetzer gefunden und in dieser Ausgabe in Matthias Göritz einen Nachwortau­tor, der es wohl zu würdigen weiß, wie ihre Gedichte »Erinnerung­sbühnen inszeniere­n, die Welt in Sprache und die Sprache in Welt transporti­eren«.

Amanda Aizpuriete:

Die Untiefen des Verrats. A. d. Lett. v. Manfred Peter Hein. Nachw. Matthias Göritz. Ink Press, 96 S., br., 17 €.

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