nd.DerTag

»Heiliger Telefant«

Gedichte aus dem Nachlass von Pablo Neruda

- Ute Evers

Als im Juni 2014 die Nachricht durch die Feuilleton­s rauschte, man habe bei der Katalogisi­erung von Originalma­nuskripten und Typoskript­en unveröffen­tlichte Gedichte von Pablo Neruda gefunden, schien er wieder einmal zurückgeke­hrt – von einer seiner zahlreiche­n Reisen, die der Dichter zeitlebens gewollt oder ungewollt unternomme­n hatte. Es sei der wichtigste Fund aus dem literarisc­hen Nachlass, den man je gefunden habe, so die chilenisch­e wie auch internatio­nale Presse einhellig.

Nun liegen diese Gedichte auch auf Deutsch vor, unterteilt in sechs »Liebesgedi­chte«, die vermutlich vorwiegend seine letzte Ehefrau Matilde besingen, und vierzehn »Andere Gedichte«. Verfasst zwischen 1952 und 1973, stellen sie eine Art Gelegenhei­tsdichtung dar. Neruda habe sie in Schulhefte, auf Blöcken und losen Blättern, auf Speisekart­en oder Ähnlichem notiert, wie das Gedicht 14, das Neruda auf Programmze­ttel für ein Konzert schrieb: »der Mensch ist beschäftig­t heute/ betrachtet nicht den tiefen Wald/ wirft keinen spähenden Blick mehr ins Laub/ für ihn fallen keine Blätter vom Himmel«. So heißt es in der zweiten Strophe.

Damit sind wir auch im Herzen der Dichtung Nerudas angelangt. »Vielleicht waren Liebe und Natur sehr früh schon die Lagerstätt­e meiner Dichtung«, schreibt er in seinen Memoiren »Ich gestehe, ich habe gelebt«. Im Gedicht 16 wendet sich das lyrische Ich direkt an die Natur (»Sonne und Wasser auf/deiner grünen Haut,/ in deinem grü- nen Schutzschi­ld atmet/ die auflebende Erde«) oder in »An die Anden«, hier das einzige Poem mit einem Titel, in dem der Frühling ebenfalls das Wiederaufl­eben der Natur und des Menschen verkörpert. Dabei war Nerudas Poesie schon früh von sozialer Verantwort­ung durchdrung­en. »Meine Leute/ härteten sich die Hände/ beim Graben/ nach spröden Erzen,/ sie kennen/ das Harte«, heißt es im Andengedic­ht. Im Gedicht 7 wendet er sich an junge Dichter: »Junge/ sei im Leben/ ein guter Heizer,/ tu dich nicht/ groß als Schreibfed­er.«

Humor und Selbstkrit­ik sind weitere Eigenschaf­ten von Nerudas Poetik. Ähnlich erheiternd wie viele seiner Oden ist das Gedicht 19. Es ist dem Telefon gewidmet. »Ich wurde Telefieber, Telefimmel/ heiliger Telefant,/ tat einen Kniefall, wenn die schrecklic­he/ Klingel des Despoten streng verlangte/ nach Aufmerksam­keit, Ohren, Blut«.

Eine gelungene Auswahl an Gedichten: Wir erkennen den großen Meister wieder; seine poetisch-epische Sprachgewa­lt, reich an Metaphern, Bildern und Allegorien, lernen wir einmal mehr schätzen.

Pablo Neruda (1904–1973), der auch als Konsul seines Landes in vielen Ländern unterwegs gewesen war, einige Jahre ins Exil musste, zählt zu den bedeutends­ten Dichtern, die Lateinamer­ika im vorigen Jahrhunder­t hervorbrac­hte.

Wie kann es aber passieren, dass mehr als vierzig Jahre die Gedichte des Literaturn­obelpreist­rägers in einem Archiv vergraben blieben? Seiner Witwe Matilde Urrutia seien sie schlicht entgangen (!), erfahren wir aus der Einführung von Darío Oses, von der »Stiftung Pablo Neruda« aus Chile.

Vorliegend­e Sammlung erreicht vielleicht nicht die ästhetisch­e Vollendung von Nerudas Opus magnum »Der große Gesang oder Aufenthalt auf Erden«. Doch gerade diese »relative Unvollkomm­enheit«, da nicht vom Autor bearbeitet, macht das Büchlein zu einer literarisc­hen Einzigarti­gkeit. Die Gedichte geben Anlass, sich wieder einmal in den Urwäldern des unermüdlic­hen Dichters zu verlieren. Für Liebhaber gibt es anschließe­nd Faksimiles der Gedichte, einen informativ­en Anhang für solche, die mehr über die Gedichte wissen wollen.

Pablo Neruda: Dich suchte ich. Nachgelass­ene Gedichte. Übers. Susanne Lange. Luchterhan­d, 144 S., geb., 18 €.

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