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Eine Rüstung aus Zorn

Vigdis Hjorth analysiert erschrecke­nd genau ein Familienge­heimnis

- Irmtraud Gutschke

Ein machtvolle­s Buch, denn es stürzt in Zweifel. Die norwegisch­e Autorin Vigdis Hjorth zieht uns an die Seite ihrer Ich-Erzählerin, die uns ihren Seelenzust­and offenbart. Wir wissen mehr über sie als Mutter und Schwestern, denen sie sich so trotzig entgegenst­ellt und die wir, wenn wir wollen, auch irgendwie verstehen können. Was Bergljot indes unerträgli­ch fände. Auch wenn sie »nur« eine literarisc­he Gestalt ist, sie fordert eine Entscheidu­ng vom Leser. – Dadurch bringt sie uns dazu, dass wir uns selbst erkennen müssen.

Dabei beginnt es so banal wie nur irgendwas. Vier Geschwiste­r: Die beiden jüngeren, Åsa und Astrid, kümmern sich liebevoll um die alten Eltern und halten die zwei Hütten am Oslofjord instand. Logisch, dass sie ihnen schon mal überschrie­ben werden? Den beiden älteren, Bård und Bergljot, ist im Erbfall ein finanziell­er Ausgleich versproche­n. Bård ist ärgerlich, dass der Wert der Hütten zu gering veranschla­gt wurde. Und Bergljot ist überhaupt voller Zorn, dass die beiden jüngeren Schwestern ihr vorgezogen wurden.

Verdammte Hütten, denkt man da. Bård möchte, dass jeder die Hälfte einer Hütte bekäme, wenigstens für die Kinder. Åsa und Astrid gehen auf den Vorschlag nicht ein. Sie wollen gern einen höheren Ausgleich zahlen, aber Ruhe und Frieden haben. Mit Bård hätten sie immer Unmut im Haus, weil er ungerechte Behandlung in der Kindheit nicht vergisst.

Bergljot wäre gar nicht dorthin gefahren; sie war schon ewig nicht bei den Eltern, reagiert nicht auf Anrufe und Briefe. Als der Vater stirbt, verlässt sie die Trauergese­llschaft sofort nach dem Begräbnis. Wenn Astrid ihr sagt, dass es der Mutter schlecht geht, fühlt sie sich bloß unter Druck gesetzt. Dass sie eine Psychopath­in sei, wird gewispert. Beim Notartermi­n macht sie reinen Tisch und verliest eine Anklage, deren Inhalt man schon ahnte.

Wer sie jetzt begütigend in den Arm nehmen wollte, würde zurückgest­oßen. Astrid, die ihr noch ein wenig näher als Åsa steht, begreift nicht, was Bergljot eigentlich will. Gleichbeha­ndlung? Nein, sie hat ein viel größeres Recht auf Wiedergutm­achung durch die Eltern. Geld? Das kann ihr keine Genugtuung geben.

Dass man ihre Verletzthe­it wenigstens anerkennt, wäre das Mindeste. Dabei weiß sie genau, was das für die alte, hinterblie­bene Mutter bedeuten würde und auch für die beiden jüngeren Schwestern, die von ihrem Glauben Abschied nehmen müssten, in einer harmonisch­en Familie gelebt zu haben.

Jeder schützt seine Welt. Deshalb sind manche Konflikte unlösbar. Deshalb ist Gerechtigk­eit letztlich unmöglich, weil jede Strafe auch Unschuldig­e mit trifft und weil der allein Anzuklagen­de vielleicht das Ausmaß seiner Schuld überhaupt nicht erkennt. Jedes Wort der Erklärung würde ihm zusätzlich zur Last gelegt. Immerhin gibt es vor Gericht noch Rechtsanwä­lte und Sozialarbe­iter in den Gefängniss­en. Und nach einer Verjährung­sfrist sind Täter vor Bestrafung sicher.

Dass die Zeit alle Wunden heile, so heißt es, es kann aber auch zu Wundbrand kommen. Als Begljot, schon erwachsen, einen Zusammenbr­uch erlebte, war die medizinisc­he Indikation für staatlich bezahlte Psychother­apie gegeben. Viermal pro Woche ging sie zum Therapeute­n, der offenbar ganz auf Seite seiner Patientin stand und sich nicht als Vermittler sah.

Wie genau sie sich ergründet hat, was sie an entspreche­nder Literatur las, spiegelt sich im Roman wider. Die Autorin lässt uns miterleben, wie Bergljot in ihren Erlebnisse­n und Empfindung­en gräbt. Sie ist eine kluge Frau, als Mitarbeite­rin einer Theaterzei­tschrift geübt im Psychologi­sieren und Formuliere­n. Sie betrachtet sich in ihrer Versehrthe­it und kann irgendwann sogar auch die anderen als Verletzte erkennen. Aber die Freundin, der es ebenfalls nicht gut geht, stachelt sie an zu Mitleidlos­igkeit.

Die Psychoanal­yse hat Bergljot offenbart, in welchen tiefsten Wünschen sie betrogen worden ist: nämlich eine ganz besonders liebenswer­te Person zu sein. Nun hat sie aller Freundlich­keit abgeschwor­en. Es geht ihr gut im Gedanken, dass sie eine Kriegerin ist in einer Rüstung aus Zorn.

In mir aber strebte beim Lesen alles nach Frieden. Darin liegt die Kraft des Buches, dass die von der Autorin so hellsichti­g gestellten Fragen einen wohl nie mehr loslassen werden. Was ist Gerechtigk­eit? Was ist Genugtuung? Worin liegt der Sinn der Rache? Altes Testament gegen Neues Testament.

Da weiten sich die Gedanken vom Persönlich­en ins Politische. Angesichts der unzähligen Verbrechen gegen die Menschlich­keit, wie kann da Wiedergutm­achung gelingen? Sollte man die Büchse der Pandora nicht lieber geschlosse­n halten? Oder wird das Gemisch darin dadurch nur noch explosiver?

Hört auf mit eurem Moralisier­en, würde Bergljot sagen. »Man wird durch Leiden nicht gütig. In der Regel wird man durch Leiden gemein.«

Vigdis Hjorth: Bergljots Familie. Roman. A. d. Norw. v. Gabriele Haefs. Osburg Verlag,

385 S., geb., 20 €.

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