Die Abgründe in den Seelen
Johannes Vilhelm Jensen, Literaturnobelpreisträger von 1944, ist nicht weit von Dostojewski entfernt
Kurt Tucholsky, so berichtet Carsten Jensen im Nachwort, habe den Schriftsteller Johannes V. Jensen bei seinem Besuch 1927 in Kopenhagen »das leuchtende große Auge im kleinen Dänemark« genannt und mit dem Weitgereisten ein intensives Gespräch über die Welt und die Weltliteratur geführt. Im Kriegsjahr 1944 wurde Johannes Vilhelm Jensen (1973-1950) – nach einer längeren, kriegsbedingten Pause – der Nobelpreis zugesprochen, was bis heute nicht unumstritten ist.
Die Bücher des Dänen sind in Deutschland kaum noch bekannt. Nun ermöglicht der Guggolz Verlag einen Einblick in das Werk des »sprachmächtigsten dänischen Schriftstellers der Moderne«. So bezeichnet ihn der Übersetzer, und er weist darauf hin, dass Jensen in seiner Heimat immer gegenwärtig war, ja sogar zum »obligatorischen Bildungsgut« gehört. Lesend gilt es also zu ergründen und zu erfahren, ob diese »Heimatliteratur der intimsten Art« tatsächlich noch anzuregen oder gar zu fesseln vermag. Um es gleich zu sagen: Es eröffnet sich uns eine archaische, fremde und befremdende bäuerliche Welt, schmerzhaft real und mythischdüster zugleich. Diese Geschich- ten sind kleine Meisterstücke der Erzählkunst, »exotische Novellen«, faszinierend und verstörend.
Das »Himmerland« ist das jütländische Herkunftsland des Schriftstellers Johannes V. Jensen. Von diesem »genügsamen Land« (wie es in einer Erzählung heißt) an einem Ende der Welt und von seinen Menschen scheint Jensen Schriftsteller nicht loszukommen. Er versucht, distanziert zu erzählen. Doch dabei gelingen ihm Nahaufnahmen, wie in alten Filmen, die Vergangenheit für die Ewigkeit aufbewahren …
Die Bewohner von »Himmerland« sind eigenwillige, kauzige, beschränkte Individuen, gebeugt durch schwere Lebensbedingungen. Sie fügen sich resigniert und verzweifelt in die ihnen vorgegebenen Rollen, oder sie rebellieren dagegen, oft mit Gewalt. So schaden sie vor allem sich selbst. Wie Thomas vom Brückenhof, der wegen Joergine eine lebenslange Fehde gegen Hans Nielsen und seine Familie führt, dabei die aberwitzigsten Mittel ersinnt und schließlich aus Rache rasend eine ganze Gaststube zertrümmert, um daraufhin tot zusammenzubrechen.
Dreiunddreißig Jahre hat die alte Kirsten recht und schlecht gelebt. Mit dem Schmiedegesellen Anders hat sie eine Familie gegründet und sich mühevoll durchs Leben geschlagen, aber der Tod hat einen nach dem anderen um sie herum weggeholt. Nichts blieb. Als sie in ihr Heimatdorf zurückkehrt, wird ihr klar, dass ihr das Leben zerronnen ist. Von nun an lebt sie noch zwanzig Jahre »im endlosen Dunkel des Wahnsinns«.
Cecil, das schönste Mädchen der Gegend »mit einem eigensinnigen Herzen«, erteilt ausgerechnet dem jungen Mann, den sie liebt, eine Abfuhr. Warum? Wir wissen es nicht, und vielleicht weiß sie es selber nicht.
»Im Norden von Jütland lebte ein Mensch, der die Tiefe der Natur und der Zeiten in sich trug, ohne es zu wissen … er trug die Schicksalsmale Pans auf der Stirn.« Das war der Jäger aus Lindby, ein heimatloser Vagabund, den »der endlose Stillstand der Zeit, die Rätselhaftigkeit des Unbekannten« umgaben. Er war ein Freund der Kinder, er jagte, angelte und spielte in den Wirtshäusern den Männern das Geld aus den Taschen. »Seine Streitlustigkeit war von typisch jütländischer Art.« Ihm verwandt scheint »Heide-Vogn« gewesen zu sein. Er lebte jenseits der menschlichen Behausungen in einer Erdhöhle. Vogn war ein »Philosoph der bitteren Art, die man als Kyniker bezeichnet.« Vogn wollte ein Buch schreiben und damit die ungerechte Welt »umdichten«. Aber dazu kam es nicht.
Johannes V. Jensen hat seine herbe Erzählweise durch schlichte Naturschilderungen unterbrochen und ergänzt und damit der bitteren Wirklichkeit eine volkstümliche Melodie eingeschrieben. Das gibt den Erzählungen im Kontext der bekannten dänischen Literatur etwas Einzigartiges, verwandt am ehesten den Werken der beiden dänischen Nobelpreisträger von 1917, Karl Gellerup und Henrik Pontoppidan. Da gibt es noch einiges wiederzuentdecken. Mit den zwölf Erzählungen ist ein Tor geöffnet für Entdeckungen in der Geschichte, in den Seelen der Menschen und in Abgründen, die unter glatten Oberflächen lauern. So sehr weit von Dostojewski ist Johannes V. Jensen nicht entfernt.
Johannes V. Jensen: Himmelandsvolk. A. d. Dän. v. Ulrich Sonnenberg. Nachw. v. Carsten Jensen. Guggolz Verlag,
184 S., geb., 20 €.