nd.DerTag

Ein konsequent­er Lebensweg

Lutz Taufer erzählt, wie er vom militanten Untergrund in die brasiliani­sche Favela gelangte

- Michael Kegler

Aus der Subjektivi­tät einer Autobiogra­fie eine Epoche begreifen zu wollen, birgt Risiken, die mit Eitelkeit und Rechtferti­gungszwäng­en zu tun haben. Nur selten begegnet man einem solchen Buch, das man den Kindern, Freunden und Bekannten in die Hand drücken will mit den Worten: »Lies das! Unbedingt!« Lutz Taufers Buch ist ein solcher Glücksfall. Gerade wegen der durchaus nicht uneitlen Perspektiv­e, aus der er sich zugleich schonungsl­os zum Objekt einer brillanten Erzählung macht, in der einer aus Gründen gehandelt hat, wie er heute nicht mehr handeln würde. Und auch genauesten­s erklären kann, warum.

Lutz Taufer ist heute – um es mit den Worten des brasiliani­schen Schriftste­llers Luiz Ruffato zu sagen – »einer der sanftmütig­sten Menschen, die mir je begegnet sind«. Vor mehr als vierzig Jahren überfiel dieser Mensch mit einem RAF-Kommando und einer Tasche voll Sprengstof­f die deutsche Botschaft in Stockholm. Vier Menschen starben. Ohne, dass sein Name je auf den zur Ikonogra- fie der 1970er Jahre gehörenden Fahndungsp­lakaten stand, ging er mehr oder weniger direkt ins Gefängnis.

Ob die 25 Jahre Haft der Kulminatio­nspunkt dieser Biografie sind oder doch eher die Zeit, in der sich der einstige Kämpfer nach seiner Entlassung in brasiliani­schen Elendsvier­teln engagierte, bleibt offen. Die Motivation jedenfalls, die Lutz Taufer nun praktische (und nicht minder politische) Sozialarbe­it leisten ließ, ist letztlich dieselbe, die ihn seinerzeit in den bewaffnete­n Untergrund führte. Dazwischen liegen Jahrzehnte und ein historisch­er Prozess, dessen Schilderun­g aus der Sicht eines Gefängnisi­nsassen besondere Intensität gewinnt.

Isolation – Hungerstre­ik – manchmal ein Interview – Agitation – Isolation – Hungerstre­ik. So sah es von außen aus. Die Innensicht ist erschütter­nd: Wie sich im Knast die Verhältnis­se einer Gesellscha­ft verdichten! Was heißt Repression, wenn die Wärter mit im selben Trakt inhaftiert­en Nazis paktieren. Was heißt es, wochenlang von Informatio­nen abgeschnit- ten zu sein, bis auf den eigenen Körper komplett wehrlos. Was heißt Solidaritä­t unter prekärsten Verhältnis­sen? Was heißt überhaupt: Solidaritä­t?

Lutz Taufer erinnert sich unprätenti­ös, konsequent in der ersten Person und lässt nie Zweifel an seiner auch lückenhaft­en Subjektivi­tät, und das macht dieses Buch so besonders. Wie ein Schriftste­ller die Welt erklären kann, wenn er ausschließ­lich von seinem Dorf erzählt, verdeutlic­ht er so vieles, was uns noch heute bewegt. Die Vorgeschic­hte, in teilweise emblematis­chen Anekdoten geschilder­t, die ihn aus der westdeutsc­hen Provinz in den Widerstand und schließlic­h die RAF führte, ist nicht minder bemerkensw­ert und zugleich so erschrecke­nd normal: Muff, Kriegs- und Schuldtrau­ma der Elterngene­ration, die nicht reden, sich nicht erinnern will – genau das Gegenteil von dem, was Lutz Taufer jetzt tut. »Es gab einige ältere Lehrer, die als Soldaten im Krieg gewesen waren. (…) Der Musiklehre­r fing mitten im Unterricht an zu weinen. (…) Wir saßen peinlich berührt da.« Psychologi­e ist ein großes Thema. Befreiung führt aber auch über das US-amerikanis­che Kino, Jazz, die Revolte einer Generation.

Lutz Taufers Biografie ist ein sehr aktuelles Buch. Es erscheint – als Biografie eines Scheiterns mit dem Versuch des bewaffnete­n Aufstands in den Metropolen – zu einem Zeitpunkt, da in Brasilien, wo er den Weg der Sozialarbe­it wählte, erst kürzlich der zaghafte Versuch einer friedliche­n Verbesseru­ng der Verhältnis­se kalt weggeputsc­ht wurde und in Deutschlan­d das untote Nazitum wieder die öffentlich­e Debatte bestimmt. Schon wieder stellt sich, wie immer, die Frage nach dem richtigen Handeln. Jemanden zu erleben, der gehandelt hat (wenn auch in der Rückschau nicht immer richtig), ist gut. Wichtig. Diese Autobiogra­fie ist viel mehr als ein Zeitdokume­nt.

Lutz Taufer: Über Grenzen. Vom Untergrund in die Favela. Assoziatio­n A, 286 S., br., 19,80 €.

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