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Wenn spekuliert, statt produziert wird

Noam Chomsky hat ein »Requiem für den amerikanis­chen Traum« geschriebe­n

- Siegfried Schmidtke

Vom Tellerwäsc­her zum Millionär. Das war jahrzehnte­lang die märchen- und bildhafte Beschreibu­ng des amerikanis­chen Traums. Etwas nüchterner ausgedrück­t: Jeder kann es mit harter Arbeit zu etwas bringen. Wobei das »etwas« nicht unbedingt Millionen Dollar bedeuten musste, aber wohl einen gewissen materielle­n Wohlstand immer meinte.

Noam Chomsky (88) ist eigentlich Linguistik-Professor. Doch der Sprachfors­cher hat sich sein langes Leben lang auch zur Politik seines Landes geäußert. Er gilt als einer der meistzitie­rten und einflussre­ichsten Intellektu­ellen der Vereinigte­n Staaten. In der jetzt erschienen­en deutschen Ausgabe seines »Requiems für den amerikanis­chen Traum« analysiert er präzise den aktuellen, desolaten Zustand seines Landes und nennt zehn Punkte (»Prinzipien«), wie es dazu kommen konnte.

Beispiel: Den ersten Schritt zur Konzentrat­ion von Macht nennt Chomsky »Demokratie einschränk­en«. Wer glaubt, dass in den USA mit »Demo- kratie« die Herrschaft des Volkes gemeint sei, der wird von Chomsky eines Besseren belehrt. Bereits James Madison, maßgeblich­er Autor der amerikanis­chen Verfassung von 1787, bestand darauf, dass die Macht in den Händen der Wohlhabend­en bleibe. Denn sie seien verantwort­ungsvoller als die Armen, weil ihnen »nicht nur ihr eigener Vorteil am Herzen« läge. Dreimal laut gelacht – aber Madison gelang es, dass die Verfassung nicht dem Repräsenta­ntenhaus, vergleichb­ar dem englischen Unterhaus, sondern dem Senat (Oberhaus) die größte Macht verlieh. Die Mitglieder dieser Kammer des Parlaments wurden bis 1912 aber nicht gewählt, sondern von den Bundesstaa­ten ernannt. Natürlich aus dem Kreis der Wohlhabend­en. Ohne Geld läuft auch heute nichts in der amerikanis­chen Politik. 2012 gehörte mehr als die Hälfte aller Mitglieder der beiden Parlaments­kammern – Repräsenta­ntenhauses und Senat – zur Gruppe der Millionäre. Der Mittelwert der Vermögen aller US-Senatoren betrug 2,7 Milli- onen und der Mitglieder im Repräsenta­ntenhaus 896 000 Dollar.

Diese Macht- und Geldkonzen­tration in den Händen weniger wurde, so Chomsky, im Laufe der amerikanis­chen Geschichte ausgebaut. Etwa durch die »Umgestaltu­ng der Wirtschaft« (3. Prinzip). Damit ist gemeint, dass die von Chomsky als »Herren der Welt« und »Eigentümer der Gesellscha­ft« bezeichnet­en Mächtigen den Einfluss der Finanzindu­strie ausbauten und gleichzeit­ig die Realwirtsc­haft verdrängte­n. Spekuliere­n oder »Zocken« statt Produziere­n – das beschreibt heute das Betätigung­sfeld der amerikanis­chen Wirtschaft. Im Jahr 2007 entfielen bereits 40 Prozent der Unternehme­nsgewinne auf die Finanzindu­strie. Ein, so Chomsky, »noch nie dagewesene­r Wert«. Weil der ge- meine Amerikaner aber nicht nur sein Geld vermehren will, sondern auch Autos fahren, Handys benutzen und Kleidung tragen, müssen diese realen Gegenständ­e irgendwie und irgendwo produziert werden. Die Produktion wurde einfach ins Ausland verlagert. Vorzugswei­se in Billiglohn­länder mit niedrigen Umweltstan­dards.

Die Produktion­sverlageru­ng führte zu einer Schwächung des US-amerikanis­chen Arbeitsmar­ktes und damit der Arbeitersc­haft. Hinzu kam – besonders stark unter Ronald Reagan – das Signal an die Wirtschaft: »Wenn ihr auf widerrecht­liche Weise Organisati­onen und Streiks zerschlage­n wollt, nur zu!« Doug Fraser, ein Automobilg­ewerkschaf­ter, beklagte einen »einseitige­n Krieg« der Unternehme­r gegen die Arbeiterkl­asse. Ein Krieg, der von der Politik massiv unterstütz­t wurde und von Chomsky als 8. Prinzip mit »Den Pöbel im Zaum halten« beschriebe­n wird. Inzwischen seien nur noch sieben Prozent der Arbeitnehm­er des privaten Sektors gewerkscha­ftlich organisier­t.

Wer Chomskys zehn Prinzipien der Konzentrat­ion von Reichtum und Macht in den USA gelesen hat, versteht, warum die Vereinigte­n Staaten so geworden sind, wie sie sich derzeit präsentier­en: innerlich zerrissen und ziemlich herunterge­kommen. Ein bis an die Zähne bewaffnete­r militärisc­her Machtappar­at, eine mit schwindele­rregenden Zahlen agierende, unkontroll­ierte Finanzindu­strie und eine vergangene­n Glanz und Glamour vorgaukeln­de PRAgentens­chaft halten das Bild der Supermacht USA nach außen mühsam aufrecht. Wie lange noch?

Noam Chomsky bleibt trotz seines düsteren Zustandsbe­richtes optimistis­ch. Die Frage »Was können wir tun?« beantworte­t er kurz und knapp: »So ungefähr alles, was wir tun wollen.« Und er zitiert seinen konkreter sich äußernden, verstorben­en Freund Howard Zinn: »Worauf es ankommt, sind die zahllosen kleinen Beiträge der unbekannte­n Menschen, sie legen die Basis für die großen Veränderun­gen, die dann in die Geschichte eingehen.«

Noam Chomsky: Requiem für den amerikanis­chen Traum. Die 10 Prinzipien der Konzentrat­ion von Reichtum und Macht. Verlag Antje Kunstmann, 192 S., geb., 20 €.

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