»Marx hatte verdammt recht!«
Andrew Sayer begründet, warum wir uns die Reichen nicht leisten können
Der Titel lässt aufhorchen. Er könnte von Karl Marx sein. Aber so scharf hätte dieser wahrscheinlich nicht formuliert. Ist Andrew Sayer, Professor für Sozialwissenschaften und Politische Ökonomie an der britischen Lancester University, Marxist?
Lassen wir ihn selbst die Antwort geben: »Im Kommunismus hat sich Marx gründlich getäuscht, aber was den Kapitalismus anbelangt, da hatte er verdammt recht! Seine Überlegungen zur Entstehung von Ungleichheiten sind erhellender als das meiste, was man dazu sonst findet.« Positiv bezieht sich Sayer auch auf Aristoteles, Adam Smith, John Maynard Keynes und den britischen christlichen Sozialisten R. H. Tawney.
Ein kritischer Denker war Sayer noch nicht, als er seine akademische Laufbahn in den 1970er Jahren in Südengland begann. Sein heutiges Denken ist vor allem der seit 2007/08 offensichtlichen Doppelkrise geschuldet: »Auf der einen Seite haben wir es mit einer tiefgehenden Finanzkrise, auf der anderen Seite mit der Bedrohung durch die galoppierende Erderwärmung zu tun.« Die Wirtschaftsstrategie des Neoliberalismus sei »vor aller Augen ge- scheitert«, werde aber ungeachtet dessen weiterhin fortgesetzt, klagt der Autor.
Sayer beschränkt seine Kritik nicht auf die Ökonomie. Der Neoliberalismus gehe mit sozialen Verschiebungen einher, die seinem Marktfundamentalismus entsprechen. »Man erwartet von uns, dass wir uns selbst als Waren behandeln, die auf dem Arbeitsmarkt angeboten werden.« Der Neoliberalismus habe auch – darum geht es Sayer vor allem – einen Wandel in der Klassenstruktur und »eine Verschiebung von Macht und Wohlstand zugunsten der Reichen« bewirkt. Was sich in einer Schwächung der organisierten Arbeiterschaft niedergeschlagen hat. Zu einer Machtverschiebung sei es aber auch innerhalb der reichen Klasse gekommen: »Von denen, die ihr Geld vorwiegend durch die Produktion von Gütern und Dienstleitungen machen, hin zu den Rentiers, deren Einkommen aus der Spekulation mit Finanzprodukten resultiert.«
Der Autor führt dafür viele Beispiele an, vor allem aus Großbritannien, aber auch aus Ländern Westeuropas und den USA. Wir sollten ernsthafter darüber nachdenken, meint Sayer, ob die uns vertrauten ökonomischen Strukturen und Vereinbarungen gerecht und vertretbar sind. Im Falle der Reichen lasse sich nachweisen, dass sie ihr Einkommen zu einem Großteil der Verfügung über Vermögenswerte wie Boden oder Geld verdanken, die sie dazu nutzen, einen Reichtum abzuschöpfen, den andere produziert haben. Seine Schlussfolgerung: »Ein Großteil ihres Reichtums ist unverdient.«
Im Zuge der wachsenden Dominanz der Finanzwirtschaft in den letzten 35 Jahren seien die Reichen vor allem deshalb reicher geworden, weil sie sich immer neue Quellen leistungslos erworben und unverdiente Einkommen erschlossen haben. Die seit der Krise von 2007/08 von den Regierungen verfolgte Sparpolitik habe niedrige und mittlere Einkommen weitaus härter getroffen als die Reichen und die Kluft zwischen Arm und Reich noch rascher wachsen lassen.
Warum die Rentierklasse die Macht dazu hat, zu nehmen, was ihr nicht gehört, erklärt Sayer mit der ihr unterworfenen und sich ihr andienenden Politik. Die politische Klasse, so stellt er fest, stehe immer mehr unter dem Einfluss der Reichen, konzentriere sich darauf, deren Interessen zu vertreten und durch Stigmatisierung von Sozialhilfeempfängern und Geringverdienern die öffentliche Aufmerksamkeit von den unsozialen Auswirkungen ihrer Austeritätspo- litik abzulenken. Indem die Politiker die Sonderinteressen und die Weltanschauung der Reichen durchsetzen, schränken sie die Demokratie immer mehr ein. Ganz in diesem Sinne werde von ihnen auch, wohl wissend, dass Maßnahmen gegen die steigende Erderwärmung die Gewinne der Reichen schmälern würden, eine verharmlosende Klimapolitik betrieben. Werde man mit der Bereicherung der Reichen fortfahren, warnt Sayer, dann drohe der Welt die soziale und ökologische Katastrophe.
Ein »Weiter so« sei unverantwortlich. Notwendig sei eine »radikale Wende« auf politischem, wirtschaftlichem wie sozialem Gebiet. Begründet wird dies von Sayer vor allem mit der Notwendigkeit, der »galoppierenden Erderwärmung« zu begegnen. Und er wiederholt eindringlich: »Niemand schädigt die Erde mehr als die Reichen.« Nämlich durch deren rücksichtslose Art des Gewinnstrebens.
Um die direkten wie indirekten CO2-Emissionen zu drosseln, müssten die großen Energiekonzerne verstaatlicht werden. Die Brennstoffgewinnung und -verarbeitung sei zu wichtig, um sie in Händen von Unternehmern zu lassen, »die außer ihren Aktionären, die Geld sehen wollen, niemandem Rechenschaft schuldig sind«.
Sayer plädiert sogar – wenn es denn ökologisch notwendig sei – für eine »Beschlagnahme von Privatkapital wie im Kriegsfall«. Er fordert die partielle Rückkehr zu einer eher lokal verankerten Wirtschaft, um auf diese Weise die CO2-intensiven Langstreckentransporte zu reduzieren. Denn »Ökonomien sind für Menschen da, nicht umgekehrt«.
Was an Sayers Buch besticht, ist die Komplexität seiner Sicht auf die Probleme, die seit der Krise von 2007/08 überdeutlich geworden sind, seine auf die Wechselwirkung ökonomischer, sozialer, moralischer, politischer und ökologischer Faktoren konzentrierte Analyse. Ein philosophisches Werk also? Sayer weist das bescheiden zurück: Sein Buch sei kein Manifest, lediglich »ein Beitrag zum Nachdenken über Gegenwart und Zukunft«.
Dieser ist ihm allerdings außerordentlich gut gelungen. Sayer verliert sich nicht in selbst erdachten Szenarien, argumentiert immer konkret und anschaulich anhand von Beispielen aus der Wirklichkeit. Er vermeidet bei seiner Beweisführung ein Übermaß an Statistiken und versteht sich darauf, seine Erkenntnisse in trefflichen Formulierungen zu vermitteln.
Kurzum: Das Buch gibt nicht nur Denkanstöße zu vielen uns beschäftigenden Fragen bezüglich des augenblicklichen Zustands und der Perspektiven der Gesellschaft, in der wir leben. Es bereitet auch Lesevergnügen.
Andrew Sayer: Warum wir uns die Reichen nicht leisten können.
Aus dem Englischen von Stefan Lorenzer. Verlag C. H. Beck,
477 S., geb., 27,95 €.