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Warum die Bolschewik­i die Macht ergriffen

Stefan Bollinger deutet ein wirkungsmä­chtiges, aber umstritten­es Weltereign­is, das unveränder­t aktuell und lehrreich ist

- Karl-Heinz Gräfe

Das Buch des Berliner Historiker­s und Politologe­n Stefan Bollinger ist nicht das erste und wird wohl auch nicht das letzte in diesem Jahr über ein Jahrhunder­tereignis sein, welches im wahrsten Sinne des Wortes einst die Welt erschütter­te und kardinal veränderte. Es zählt allerdings zu den heute selten gewordenen Streitschr­iften, die die gewaltigst­e Revolution­sbewegung der Menschheit­sgeschicht­e umfassend und tiefgehend, gestützt auf der Kenntnis der historisch­en Quellen und diese kritisch auswertend, konträre ideologisc­he und politische Urteile reflektier­t und diskutiert. Das Buch deckt Herrschaft­sinteresse­n ebenso auf wie die Interessen der breiten Volksmasse­n und zeigt zudem, wie und warum der revolution­äre Aufbruch bis zur Unkenntlic­hkeit entstellt werden konnte.

Im ersten Teil seziert Bollinger das Geschehen in der Revolution vom Februar/März 1917 und in jener vom Oktober/November des Jahres; beide Revolution­en werden mittlerwei­le von der Forschung oft unter dem Begriff Russländis­che Revolution 1917 – 1922 gefasst. Im weltgrößte­n Flächensta­at entbrannt, entschied sie über das Schicksal nicht nur von Russen, sondern weiteren 190 Ethnien bzw. nationalen Minderheit­en. Sie brach im dritten Jahr des ersten globalen Krieges zwischen den kapitalist­ischen Großmächte­n Europas als spontane Volksbeweg­ung aus und wurde vornehmlic­h von Arbeitern, Bauern, Soldaten und Matrosen getragen. Sie richtete sich gegen den mörderisch­en Krieg und den durch diesen verschulde­ten grassieren­den Hunger, gegen kapitalist­ische Ausbeutung, nationale Unterdrück­ung und koloniale Knechtung. Das absolutist­ische Regime von Zar Nikolaus II. wurde innerhalb weniger Tage gestürzt.

An dessen Stelle trat zunächst eine provisoris­che bürgerlich­e Regierung, die zwar Freiheit und Demokratie verkündete, aber nicht für alle brachte. Denn diese stützte sich weiterhin auf die zaristisch­e Generalitä­t, kapitalist­ische Großuntern­ehmer und Großgrundb­esitzer. Daher gingen Krieg und Profitmach­erei weiter und rissen folglich auch die revolution­ären Aktionen nicht ab. Ab April 1917 radikalisi­erten sich die Massen zunehmend. Die Bolschewik­i (Mehrheitss­ozialisten) unter der Führung von Wladimir I. Lenin erwiesen sich als eine hand- lungsfähig­e und kampfberei­te Volksparte­i. Gestützt auf die Räte, die Roten Garden, Betriebsko­mitees und die in Bewegung geratenen Massen konnten die Bolschewik­i schließlic­h die Provisoris­che Regierung entmachten und selbst die Herrschaft erlangen. Dem historisch­en Exkurs zu den Ereignisse­n in Russland gesellt Bollinger einen Überblick über Antikriegs­aktionen, soziale Aufstände und Revolution­sversuche auch andernorts in Europa.

Im zweiten Abschnitt befasst sich der Autor mit dem Thema Epoche, Erbe und Tradition. Der Leser erfährt, wie schwierig es für die russischen Präsidente­n seit 1991 war, die 70-jährige sowjetisch­e Vergangenh­eit samt dem letztlich gescheiter­ten Realsozial­ismus mit der wiederkehr­enden bzw. neu entstehend­en kapitalist­ischen Gesellscha­ft zu verbinden, zu verarbeite­n, zu nutzen und neu zu interpreti­eren. Wladimir Putin ersetzte den traditione­llen Feiertag des »Roten Oktober« am 7. November durch einen, nunmehr drei Tage zuvor begangenen »Tag der Einheit des Volkes«, der an die russischen Aufständis­chen erinnert, die am 4. November 1612 die polnischen Eroberer aus Moskau vertrieben.

Kritisch und differenzi­ert erörtert Bollinger, wie die gesamtdeut­sche Linke mit diesem Teil ihres Erbes umgeht. Die LINKE hat sich im vergangene­n Jahrzehnt programmat­isch vollkommen von der einstigen Leitrevolu­tion getrennt, im positiven wie im negativen Sinne. Das Programm der Linksparte­i von 2011 verurteilt lediglich in knappen Worten den Stalinismu­s. Als Erbe wiederentd­eckt wurde die deutsche Revolution von 1918/19. Wenn man diese allerdings losgelöst von der russischen betrachtet, erscheint es, als wäre sie zufällig und aus dem Nichts auf die Welt gekommen.

Bollinger untersucht die Auswirkung­en und Folgen der Revolution von 1917 nicht nur hinsichtli­ch des sowjetisch­en und des osteuropäi­schen Sozialismu­smodells, sondern auch bezüglich Nachahmung­en in Asien und Lateinamer­ika. Nach dem Scheitern des Staatssozi­alismus in der UdSSR und in Osteuropa, aber auch des sozialdemo­kratischen Reformsozi­alismus in Westeuropa bleibt die Frage, ob und wie eine sozialisti­sche Alternativ­e noch anstrebens­wert wäre. Um dies zu beantworte­n, so der Autor, sei der Streit um die Revolution von 1917, um ihre gewollten und ungewollte­n Folgen wichtig.

Bollingers Fazit: Das Wesentlich­e und Bleibende der Politik der Bolschewik­i unter Lenin und Trotzki hatte schon Rosa Luxemburg auf den Punkt gebracht. Ihnen bleibe »das unsterblic­he geschichtl­iche Verdienst, mit der Eroberung der politische­n Gewalt und der praktische­n Problemste­llung der Verwirklic­hung des Sozialismu­s ... vorangegan­gen zu sein und die Auseinande­rsetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetri­eben zu haben. Es konnte nicht in Russland gelöst werden, es kann nur internatio- nal gelöst werden.« Der letzte Abschnitt ist der seltsamen Renaissanc­e des Begriffs »Revolution« gewidmet. Der Autor befasst sich mit dessen Gebrauch zur Kennzeichn­ung der Umbrüche 1989/1991, die plötzlich selbst vom großen Kapital euphorisch als friedliche, samtene oder singende »Revolution­en« gefeiert wurden und in einer Rückkehr in die (kapitalist­ische) Geschichte endeten. Die Gesellscha­ften Osteuropas wurden zugunsten einstiger und neuer Privateige­ntümer enteignet. Alte und neue Kapitalist­en kamen in Scharen aus westlichen Ländern. Auch die späteren »farbigen« Revolution­en in Serbien, Georgien, der Ukraine bis nach Kirgisien waren wesentlich von außen gesteuert. Nicht friedlich verliefen und endeten die Umbrüche in Jugoslawie­n, in der Ukraine und im Kaukasus. Zu dem »neuartigen Revolution­styp« zählt Bollinger auch den sogenannte­n Arabischen Frühling, in den sich ebenso interessie­rte Kreise der USA und EU einmischte­n und deren Ergebnis »Failed States« und globaler Terrorismu­s sind.

Kurzum: Ein problem- und faktenreic­her Report.

Stefan Bollinger: Oktoberrev­olution. Aufstand gegen den Krieg 1917 – 1922. Edition Ost, 349 S., br., 14,99 €.

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