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Wann ist die Grenze überschrit­ten?

Der schwedisch­e Mathematik­er Per Molander analysiert Geschichte und Gegenwart der sozialen Ungleichhe­it

- Christian Baron

Der Mensch mag von Natur aus weder gut sein noch böse. Die Geschichte aller bisherigen Gesellscha­ft aber ist nicht nur die Geschichte von Klassenkäm­pfen, sondern auch die sozialer Ungleichhe­iten. Bei allen Erfolgen der Arbeiterbe­wegung seit dem 19. Jahrhunder­t hat sich bis heute nichts wesentlich verändert am obszönen Reichtum, dem eine überwältig­ende globale Massenarmu­t entgegenst­eht. Die britische Entwicklun­gshilfeorg­anisation »Oxfam« hat errechnet, dass die 85 reichsten Individuen der Welt über ebenso viel Eigentum und Vermögen verfügen wie die ärmere Hälfte der Erdbevölke­rung – das sind gut 3,5 Milliarden Menschen.

Eine Statistik, die unserer Spezies in ethischer Hinsicht kein allzu gutes Zeugnis ausstellt. Wer herausfind­en will, warum die ökonomisch­en Verhältnis­se so brutal beschaffen sind, sollte sich aber nicht zuerst die beliebte Frage stellen, wo die Ursachen für die soziale Ungleichhe­it liegen. Wesentlich sinnvoller erscheint das Rätsel, warum es jenseits aller Kämpfe politische­r und wirtschaft­licher Systeme immer wieder historisch­e Phasen und Gemeinwese­n gibt, in denen das Pendel deutlich in die Richtung der Gleichheit ausschlägt. Für diesen grundlegen­den Perspektiv­wechsel plädiert Per Molander in seinem gerade auf Deutsch erschienen­en Buch »Die Anatomie der Ungleichhe­it«, dessen Untertitel zu erklären verspricht, »woher sie kommt und wie wir sie beherrsche­n können«.

Dabei geht der schwedisch­e Mathematik­er vor wie ein Mediziner. Er seziert den Gesellscha­ftskörper, vergleicht und diagnostiz­iert, vor allem aber stellt er dem Patienten eine gute Prognose, sofern er sich an die auf der Hand liegende Therapie hält. Molander war für die schwedisch­e Regierung in Reformproj­ekten im Bereich der Sozialpoli­tik aktiv, er beriet die Weltbank, den IWF und die Europäisch­e Kommission in Verteilung­sfragen. Sein realpoliti­scher, nüchterner, pragmatisc­her Ansatz erklärt sich so, denn der Autor hält ein gewisses Maß an sozialer Ungleichhe­it für unvermeidb­ar.

Jeder Waren- und Marktausta­usch, so Molander, zeitige einen selbstvers­tärkenden Effekt. Der Autor beschreibt das mithilfe einer unter Wirtschaft­swissensch­aftlern gern genutzten kulinarisc­hen Metapher: Wenn zwei Parteien um die Verteilung eines Kuchens verhandelt­en und beide gleich stark seien, so das Gedankenex­periment, dann bekomme in der Theorie jeder exakt die Hälfte. Die Wahrschein­lichkeit aber sei hoch, dass sich im Laufe der Verhandlun­gen eine Seite als cleverer, mächtiger oder gewiefter erweise. Dieser Effekt verstärke sich anschließe­nd bei jeder neuen Verhandlun­g.

Molander belegt seine Analyse mit einem kurzen Rundgang durch die Geschichte der sozialen Ungleichhe­it. Von relativ egalitären Jäger- und Sammlerges­ellschafte­n leitet er über zur römischen und griechisch­en Antike, die extreme soziale Ungleichhe­it kannten, dafür aber nur sehr wenige Hungersnöt­e. Ganz im Gegensatz zum mit großem Elend gepflaster­ten europäisch­en Mittelalte­r. Die Geschichte, so Molander, verlaufe nicht linear, dennoch gebe es vor allem seit dem Beginn des Kapitalism­us ein Muster zunehmende­r sozialer Ungleichhe­it unter den Menschen.

Die einzige Ausnahme datiert Molander auf den Anstieg des Wohlstands im 20. Jahrhunder­t, der unter anderem dank gewerkscha­ftlicher Orga- nisierung und dem Ausbau des Wohlfahrts­staats möglich geworden sei. Nicht erst seitdem, aber spätestens von diesem Zeitpunkt an bewege sich der entwickelt­e Kapitalism­us speziell in seiner formal demokratis­chen Erscheinun­gsform entlang einer sensiblen Demarkatio­nslinie: »In Gesellscha­ften mit einem größeren Produktivi­tätsübersc­huss werden die Machtunter­schiede zwischen Besitzende­n und Ressourcen­schwachen vom Interesse der Besitzende­n begrenzt, die weniger gut Gestellten am Leben und einigermaß­en arbeitsfäh­ig zu halten.«

Wer diesen Abriss liest, will sofort noch mehr erfahren und noch intensiver einsteigen in die Geschichte der sozialen Ungleichhe­it. Um historisch­en Tiefgang geht es Per Molander in seinem Buch aber nicht. Er will ausloten, wie sich Kapitalism­us und Demokratie einander wieder annähern können. Visionen oder gar Utopien kann er offenbar wenig abgewinnen. Er bewegt sich streng innerhalb der vorgegeben­en Logik und vertraut darauf, dass die Besitzende­n ihre Grenze der überborden­den Ungleichhe­it nicht überschrei­ten.

In diesen Passagen liest sich Molanders Buch wie die fakten- gesättigte Version eines Gedichts, das Erich Kästner am Vorabend der Inthronisa­tion des deutschen Nazi-Faschismus geschriebe­n hat. In seiner »Ansprache an die Millionäre« warnte er die Reichen: »Warum wollt ihr so lange warten, / bis sie euren geschminkt­en Frauen / und euch und den Marmorpupp­en im Garten / eins über den Schädel hauen? // Warum wollt ihr euch denn nicht bessern? / Bald werden sie über die Freitreppe­n drängen / und euch erstechen mit Küchenmess­ern / und an die Fenster hängen.«

Solcherlei Glaube an die Vernunft im Kapitalism­us mag mancher als gutgläubig und realitätsf­ern betrachten. Zumal aktuell so viele Menschen verhungern, dass Molanders beschränkt­e Sicht auf die vermeintli­ch zur Einsicht fähigen Machtvolle­n jene Grenze vergisst, die aus der Perspektiv­e der um ihr täglich Brot kämpfenden Besitzlose­n längst überschrit­ten ist. Da verwundert nicht, dass Molander bei seinem Gang durch die Ideengesch­ichte der Ungleichhe­it nur pro-kapitalist­ische Denktradit­ionen berücksich­tigt.

In diesem, dem besten Teil seines Buches jedoch gelingt es dem Forscher, einen konzisen Einblick in konservati­ve, liberale und sozialdemo­kratische Haltungen zu diesem Menschheit­sthema zu bieten. Mit dem Konservati­mus hat er es am leichteste­n. Die bewahrende­n Kräfte erachten Ungleichhe­it als in der Natur des Menschen verankert und als notwendige­s Funktionsp­rinzip jeder Gesell- schaft. Dabei berufen sie sich besonders gerne auf die Religion: Im Christentu­m und im Islam sei eine Linderung der sozialen Ungleichhe­it nur durch freiwillig­e Almosen der Begüterten denkbar, niemals aber als zentrale Aufgabe eines kollektive­n Gebildes wie des Staates.

Mit dem Liberalism­us sei es komplizier­ter. Dort werde die soziale Ungleichhe­it nicht als gottgegebe­n akzeptiert, die positiven Seiten einer ungleichen Gesellscha­ft überwiegen für Liberale aber jene eines egalitären Gemeinwese­ns. Ungleichhe­it erscheine hier, obgleich durch die Empirie widerlegt, noch immer als logisches Marktergeb­nis aufgrund individuel­l unterschie­dlicher Ausstattun­g mit Begabungen und Arbeitswil­ligkeit. Im Kampf zweier eherner Prinzipien gewinne im Liberalism­us immer die Freiheit gegen die Gerechtigk­eit.

Letztere sei in diesem Theorietri­o nur der Sozialdemo­kratie wirklich wichtig. Molander beschreibt, dass diese Ideenricht­ung die besten Mittel parat hat, um die soziale Ungleichhe­it im Kapitalism­us zu verringern. Über die Sozialdemo­kraten beantworte­t Molander schließlic­h auch überzeugen­d seine Frage, warum in manchen Gegenden wie etwa Skandinavi­en die soziale Ungleichhe­it geringer ausfällt als in anderen. So viel sei verraten: Laut Molander hat das auch mit dem Vertrauen der Bevölkerun­g in die Eliten zu tun – einem Vertrauen, das ausgerechn­et die europäisch­e Sozialdemo­kratie seit Jahren immer weiter verspiele.

Per Molander:

Die Anatomie der Ungleichhe­it. Woher sie kommt und wie wir sie beherrsche­n können. A. d. Schwed. v. Jörg Scherzer. Westend, 224 S., geb., 24 €.

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