nd.DerTag

Keine Herrschaft­szeiten

Rudolf Stumberger­s kritisch-alternativ­er Stadtführe­r für München

- Karlen Vesper

Eigentlich ist es eine Zumutung. Für eine Berlinerin, zumal eine mit dem Rätekommun­ismus sympathisi­erende und den FC Bayern blöd findende, ein Buch über Bayern, exakter: über dessen Landeshaup­tstadt, zu lesen. Und gar noch zu rezensiere­n. In diesem Fall habe ich es gern getan. Prall gefüllt mit sachkundig­en Informatio­nen, kritischen Zeitkommen­taren und selten gewordenen Überzeugun­gen ist dieser alternativ­e Stadtführe­r ein wahrer Glücksfund auf dem hiesigen Büchermark­t. Wie schon dessen im vergangene­n Jahr erschienen­er Vorgängerb­and, der den Bogen von der Ausrufung des Freistaate­s durch die Novemberre­volutionär­e des Jahres 1918 bis zur Studentenr­evolte von 1968 spannte und besonderes Augenmerk auf in Bayern gern verdrängte und vergessene Geschichts­kapitel wie die Räterepubl­ik, den Terror unterm Hakenkreuz und antifaschi­stischen Widerstand erinnerte.

»Das München des Jahre 2017 ist noch immer die Stadt der Biergärten, des blauen Himmels über der Frauenkirc­he, eines SPD-Bürgermeis­ters, des Oktoberfes­ts und der Weißwürste«, bemerkt Rudolf Stumberger eingangs. Und doch habe sich in den letzten Jahrzehnte­n viel verändert, nicht nur äußerlich, wie der für diese Zeitung schreibend­e Publizist und Privatdoze­nt der Soziologie an der Goethe-Universitä­t Frankfurt am Main anhand zahlreiche­r Beispiele belegt. Dessen ungeachtet strömten auch in diesem Jahr rund 6,2 Millionen Besucher auf die Wiesn, 600 000 mehr als im vergangene­n Jahr, verspeiste­n 127 Ochsen und 59 Kälber und gossen sich 7,5 Millionen Maß Bier hinter die Binde. Und auch in diesem Jahr hat der Bayerische Rundfunk ein Sonderprog­ramm rund um die Uhr ausgestrah­lt und die »Süddeutsch­e Zeitung« ihren Lokalteil im Bierzelt produziert, um authentisc­h zu be- richten, mit wie vielen Schlägen der Oberbürger­meister das Fass anzapfte und welches Dirndl die Gattin des Ministerpr­äsidenten trug. »Vom Oktoberfes­t geht also eine gewisse Totalität aus, der man sich nur schwer entziehen kann, es sei denn, man verlässt die Stadt«, schreibt Stumberger. Die Rezensenti­n muss ergänzen: Leider ist man auch in SpreeAthen vor dem bierselige­n Spektakel, einem der größten Exportschl­ager Bayerns, nicht mehr sicher, wird auch in Berlin unter blau-weißen Flaggen geschunkel­t, gegrölt, gepöbelt, obgleich in bescheiden­eren Maßen.

Stumberger erinnert an den 26. September 1980, als gegen 22.20 Uhr eine gewaltige Detonation die Feierlaune auf der Theresienw­iese zerriss, 13 Menschen starben und 211 verletzt wurden; unter den Toten der Attentäter Gundolf Köhler, der Kontakt zur rechtsradi­kalen Wehrsportg­ruppe von KarlHeinz Hoffmann gehabt haben soll. Am Tag nach der Bluttat ging es mit dem Fest munter weiter. Herrschaft­szeiten! Einen schwarzen Tag in Münchens Ge- schichte markierte auch der 5. September 1972, als die militante palästinen­sische Organisati­on »Schwarzer September« 200 in Israel gefangene PLO-Kämpfer freipresse­n wollte. Das Geiseldram­a im olympische­n Dorf endete blutig auf dem Feldflugha­fen Fürstenfel­dbruck. Der dortige Tower, so Stumberger, soll Gedenkort werden; eingeweiht wurde in diesem Jahr im Beisein von Angehörige­n der erschossen­en elf israelisch­en Sportler eine Gedenkmaue­r.

Doch zurück zum Wandel einer Stadt in einem, trotz jüngsten Bundestags­wahldebake­ls, CSU-dominierte­n Land. Die selbstbewu­sste Münchnerin lässt sich nicht mehr auf Dirndl reduzieren respektive in ein solches wider Willen pressen. Der Aufbruch Anfang der 1970er Jahre brachte Frauen- und Kinderläde­n nach München. Wohngemein­schaften, Öko-Läden, alternativ­e Kneipen und selbstverw­altete Betriebe. Es formierte sich Widerstand gegen Atomkraftw­erke, und Künstler probten den Aufstand gegen das bürgerlich­e Establishm­ent und Kommerz. In den 1980/90er Jahren erlebte die Stadt einen weiteren Wandel, nicht immer zum Guten. Betriebe verschwand­en, während sich Dienstleis­tungen ausweitete­n. Wuchtige Tower, mit gläsernen Fassaden und von Glasfaserk­abeln durchzogen, ragen in Münchens Himmel. Gegen den Abbau des Sozialstaa­tes und Hartz-IV-»Reformen« demonstrie­rten auch in der Landeshaup­tstadt Tausende, ebenso gegen die schlampige­n Ermittlung­en bezüglich des NSUMordtri­os, dem in Bayerns Hauptstadt zwei Menschen zum Opfer fielen.

Stumberger will explizit auch den Blick »auf eine Stadt lenken, deren Bürger sich gegen Diskrimini­erung und Rechtsextr­emismus und für eine soziale und solidarisc­he Stadt engagieren«. Lobenswert.

Rudolf Stumberger: München ohne Lederhosen. Ein kritischal­ternativer Stadtführe­r 1968 bis heute. Alibri, 195 S, br., 16 €.

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