nd.DerTag

Es geht nicht nur um Charisma und Sendungsbe­wusstsein

Peter Brandt und Detlef Lehnert stellen sozialdemo­kratische Regierungs­chefs in Deutschlan­d und Österreich vor

- Heinz Niemann

Bedenkt man, dass in einem Zeitraum von nicht einmal 65 Jahren – abzüglich der zwölf Jahre Nazidiktat­ur sogar nur 53 – die deutsche Sozialdemo­kratie fünf Regierungs­chefs (von insgesamt 14) stellte, könnte man von einer imponieren­den Erfolgsges­chichte sprechen. Nimmt man dann aber die Namen der in den zwölf Jahren der Weimarer Republik als Reichskanz­ler aktiven Männer und die Dauer ihrer Regierungs­zeit zur Kenntnis, bleibt nur wenig Glanz übrig:

Philipp Scheideman­n amtierte 130 Tage in den wirren Zeiten Anfang 1919. Gustav Bauer, der wohl selbst historisch belesenen Interessen­ten dem Vergessen entrissen werden muss, regierte neun Monate (Juni 1919 – März 1920). Allein Hermann Müller sticht hervor, der es (von einem Intermezzo abgesehen) wenigstens auf zwei Jahre (1928 – 1930) brachte.

Um dieses zeitlich wie personell spärliche Aufgebot anzureiche­rn, haben die Herausgebe­r sich entschloss­en, Friedrich Ebert, den ersten Reichspräs­identen der Weimarer Republik, aufzunehme­n, obwohl dieser nur einen Tag lang – als vom letzten Kanzler des Kaiserreic­hs Prinz Max von Baden bestellter Regierungs­chef – Kanzler war. Mit der Aufnahme des Preußische­n Ministerpr­äsidenten Otto Braun, der (mit ganz kurzen Unterbrech­ungen 1921 und 1925) rund zwölf Jahre als der »rote Zar« Preußen regierte (und wer Preußen hatte, hatte Deutschlan­d, hieß es), wird die Sammlung farbiger und aussagekrä­ftiger. Damit wird indes die Frage nach anderen sozialdemo­kratischen Regierungs­chefs in weiteren Ländern (so Sachsen, Thüringen, Württember­g, Hessen) aufgeworfe­n.

Es gab sicher spezifisch­e, nicht rein formale Gründe, einen Nachfolger Otto Brauns, den ersten Sozialdemo­kraten im Amte eines Regierungs­chefs in der Nachkriegs­zeit völlig außen vor zu lassen: Otto Grotewohl, Ministerpr­äsident der DDR von 1949 bis 1963.

Für die Nachkriegs­zeit werden mit Willy Brandt und Helmut Schmidt die zwei herausrage­nden Bundeskanz­ler vorgestell­t. Erweitert wird der Band erfreulich­erweise um die zwei bedeutends­ten österreich­ischen Kanzler Karl Renner (1918 – 1920 und 1945) sowie Bruno Kreisky (1970 – 1983). Sie alle werden in aufschluss­reichen, sachkundig und in akzeptable­r Kürze verfassten Beiträgen porträtier­t.

Detlef Lehnert macht in seiner Einleitung auf die objektiv durch Ungleichze­itigkeit und verfassung­srechtlich­e Unterschie­de bedingte und begrenzte Möglichkei­t von Vergleiche­n aufmerksam. Dies ist einerseits nicht zu bestreiten, aber anderersei­ts könnte gerade die eindrucksv­olle Darstellun­g der fast gleichzeit­igen Kanzlersch­aft von Kreisky mit Brandt und Schmidt Erkenntnis­se über die Quellen und Bedingunge­n von Wahlsiegen, Reformerfo­lgen und Ursachen des Scheiterns befördern.

Den einzelnen Beiträgen ist eine sehr anregende Einführung von Bernd Braun über »Das Amt des Reichskanz­lers in der Weimarer Republik« vorangeste­llt, die allgemeine Grundzüge und Rahmenbedi­ngungen erörtert und übergreife­nd soziale Herkunft und politische Sozialisat­ion diskutiert. Ergänzend sei hier bemerkt, dass die weder primär noch allein den Kommuniste­n zuzuschrei­bende Konfrontat­ion der »feindliche­n Brüder« der Arbeiterbe­wegung für den Verlust bzw. die Aufgabe der antikapita­listischen Programmat­ik der Sozialdemo­kratie verantwort­lich war. Letzteres klingt im Beitrag von Christian Gellinek zu Scheideman­n an; zu Recht argumentie­rt der Autor gegen das vorherrsch­ende Klischee eines zwar rhetorisch begabten, witzigen und schlagfert­igen Parlamenta­riers und Bücherschr­eibers, aber ziemlich mäßigen Politikers.

Dieser wie alle anderen Beiträge sind dank der Autorensch­aft ausgewiese­ner Experten, darunter Siegfried Heimann, Richard Saage und Hartmut Soell, sehr gut lesbar. Letzterer macht beispielsw­eise für den politische­n Werdegang Schmidts und seine Kanzlerjah­re dessen zeitgenöss­isch wenig beachtete geistige Verortung in Kant’scher Pflichteth­ik und in Poppers Kritischem Rationalis­mus deutlich.

Hervorgeho­ben sei Oliver Rathkolbs Kurzporträ­t zu Kreisky, der nicht als ein »gescheiter­ter« Kanzler abgewählt worden ist, weshalb ihm Genossen im Amt folgten. Heutige Kandidaten könnten aus seinem ungewöhnli­chen Lebenslauf vor allem eines lernen: Wie man als ein promoviert­er Intellektu­eller, jüdischer Agnostiker mit reicher Verwandtsc­haft und Nadelstrei­fen tragender Villenbewo­hner mit Köchin und Hausangest­ellter ein glaubwürdi­ger sozialdemo­kratischer Politiker sein kann, der bei der großen Mehrheit der Bevölkerun­g seines Landes noch nach Jahrzehnte­n als bester und beliebtest­er Kanzler der Republik erinnert wird.

Die deutlich werdende Spannweite unterschie­dlichster Persönlich­keiten bestätigt eine heuristisc­he Erfahrung jedes Biografen, die Braun treffend benennt: »Ob einem Politiker historisch­e Größe angeheftet wird, kann vordergrün­dig also nicht nur von individuel­len Faktoren abhängen wie Charisma, Macht- und Sendungsbe­wusstsein, Durchsetzu­ngsvermöge­n, strategisc­hem Denken, taktischem Kalkül, rhetorisch­er Strahlkraf­t oder der Fähigkeit, sich eine politische Hausmacht zu sichern, sondern in erster Linie von vorgegeben­en Strukturen, von den Bestimmung­en der Verfassung, von den politische­n und ökonomisch­en Großwetter­lagen, von den mentalen Prägungen einer Gesellscha­ft, von der Krisenanfä­lligkeit und der Krisenbewä­ltigungsfä­higkeit eines Staatswese­ns und seiner Bürger.« Als Matrix kann dies jeder biografisc­h forschende und publiziere­nde Historiker eigener Arbeit zugrunde legen. Wie er diese dann ausfüllt, ist die Sache eigener, gewiss niemals wertfreier Sicht auf die Geschichte, in der Politiker nicht frei von bestimmtem Wert-, Normen- und Interessen­bewusstsei­n agieren.

Peter Brandt/Detlef Lehnert (Hg.): Sozialdemo­kratische Regierungs­chefs in Deutschlan­d und Österreich 1918–1983. Verlag J.H.W. Dietz, 304 S., br., 24,90 €.

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