Hypnotischer Schlaf
Philippe Kellermann über die Anarchisten in der Russischen Revolution
Als Pjotr A. Kropotkin, der große alte Mann des russischen und internationalen Anarchismus, gestorben war, durfte an seiner Beerdigung am 13. Februar 1921 auch eine von den Bolschewiki inhaftierte Gruppe von Anarchisten teilnehmen. Sie war auf Ehrenwort für diesen Tag freigelassen worden. Dieser Anflug von Toleranz sollte nicht von Dauer sein. Die von einer machtvollen Demonstration begleitete Beerdigung war die letzte große öffentliche Manifestation des russischen Anarchismus, der in der Russischen Revolution zu einer Massenbewegung geworden war. Viele der Teilnehmer dieser Demonstration wurden später inhaftiert, erschossen oder aus Russland ausgewiesen.
Dabei hatten die verschiedenen Strömungen von den Anarcho-Kommunisten bis zu den Syndikalisten trotz anfänglicher Warnungen mit den Bolschewiki sympathisiert. Aber die Beziehungen zueinander blieben auch in der kurzen Zeit des gegenseitigen Tolerierens ambivalent. In der Ukraine band die gewaltige, von Nestor Machno geführte bäuerliche Bewegung, die Kooperativen gebildet hatte und über eine große Streitmacht verfügte, ganze Truppenkontingente der weißen Reaktion und deutschen Besatzer. War aber die Situation für die Bolschewiki wieder günstiger geworden, be- gann die Rote Armee, die Machno-Truppen zu bekämpfen.
Das die Linken in den Sowjets einigende Band zerriss, als die Bolschewiki die Räte zu dominieren begannen. Eine erste Konsequenz zogen die Matrosen und Arbeiter von Kronstadt, indem sie die Parole »Alle Macht den Sowjets« durch den Zusatz »Keine Macht für eine Partei« ergänzten. Mit der am 18. März 1921 beginnenden blutigen Niederschlagung der Kommune von Kronstadt waren dann endgültig die Weichen für eine Ein-Parteien-Diktatur gestellt. Bekannte Anarchisten wie Emma Goldmann und Alexander Berkman verließen Sowjetrussland und wurden zu dessen schärfsten Kritikern.
In Deutschland war es zunächst Erich Mühsam, der aus Achtung vor Lenin und den Bolschewiki 1919 für kurze Zeit in die KPD eintrat und auch später, bei wachsender Kritik an den Bolschewiki, sich doch für eine Aktionseinheit von Kommunisten und Anarchisten aussprach. »Wie viele andere«, schrieb Rudolf Rocker in seinen Erinnerungen, »brachte auch Erich anfangs der Sowjetregierung mehr Vertrauen entgegen, als sie verdiente, da er fest überzeugt war, dass die große Umwälzung, die sich in Rußland vollzog, ganz von selbst zu einem freien Herrschaftsgebilde führen müsse. Er war in dieser Hinsicht nicht der Einzige, der sich solchen Illusionen hingab.«
Leider wird unser Wissen um die Russische Revolution primär durch die Rolle der Bolschewiki, Menschewiki und, im geringeren Maße, der Sozialrevolutionäre und der Konstitutionellen Demokraten bestimmt. Auch für die kommunistische Geschichtswissenschaft galt, dass die Sieger die Geschichte schreiben. Und so wurden die Anarchisten in der Regel prejorativ gezeichnet und die anarchistischen Kritiker der Bolschewiki zu Unpersonen. Es war Interessierten kaum möglich, Authentisches zu lesen.
Dass nun ein marxistisch orientierter Verlag, ein ehemaliger Parteiverlag überdies, ein so klug komponiertes Buch über den Anarchismus und die Russische Revolution herausbrachte, ist daher umso verdienstvoller. Herausgeber Philippe Kellermann führt kenntnisreich in die politischen Positionen des russischen Anarchismus zwischen 1917 und 1918 ein, Alexander Schubin informiert ausführlich über die Machnotschina, Reiner Tosstorff analysiert detailliert das Verhältnis der Syndikalisten zur Oktoberrevolution und Mitchell Abidor beschreibt die russischen Jahre Victor Serges, der, in sich zerrissen, zwischen Anarchismus und Kommunismus changiert. Unmöglich, hier auf all die anderen, ebenso interessanten und informativen Beiträge einzugehen. es sei daher die Lektüre wärmstens empfohlen.
Über die Beerdigung von Kropotkin gab das »Ausländische Büro zur Schaffung der russischen Anarcho-Syndikalistischen Konföderation« 1922 in Berlin ein Album heraus. Der Erlös aus dem Verkauf sollte den von den italienischen Faschisten inhaftierten Anarchisten zugutekommen. Zu lesen war da über die Trauer um Kropotkin: »Noch die sterbliche Hülle hatte die gleiche starke Wirkung wie der lebende Mensch ... Eine Woche lang weckten die Reden der gepeinigten und hungrigen Moskauer Anarchisten die Massen aus dem hypnotischen Schlaf des staatlichen ›Kommunismus‹.«
Philippe Kellermann (Hg.): Anarchismus und Russische Revolution. Karl Dietz Verlag,
416 S., br., 29,90 €.