nd.DerTag

Von Provos und Spontis

Sebastian Kalicha würdigt den gewaltfrei­en Anarchismu­s

- Peter Nowak

»Je mehr Gewalt, desto weniger Revolution« lautete das Credo des holländisc­hen Anarchiste­n Bart de Ligt. Das mag alle überrasche­n, die Anarchismu­s noch immer mit Chaos und Gewalt in Verbindung bringen. Doch damit wird schlichtwe­g die lange Tradition eines gewaltfrei­en Anarchismu­s und Syndikalis­mus ignoriert, die Einfluss in vielen linken Bewegungen in aller Welt hatte und hat.

Der Wiener Autor Sebastian Kalicha hat sich seit Jahren mit dieser gewaltfrei­en Strömung befasst und sie in verschiede­nen Veröffentl­ichungen bekannt gemacht. Jetzt begab er sich erneut auf die Suche nach den historisch­en Wurzeln und Spuren des anarchisti­schen Pazifismus. Es ist nur konsequent, dass sein sachkundig­es wie streitbare­s Buch im Verlag Graswurzel­revolution erschienen ist, einem Editionsha­us, das zur Infrastruk­tur der gewaltfrei­en Bewegung gehört und auch regelmäßig eine Zeitschrif­t gleichen Namens herausgibt.

Das Buch ist in drei Kapitel gegliedert. Im ersten Kapitel geht es um die theoretisc­hen Grundlagen der gewaltfrei­en Bewegung, im zweiten werden 55 bekannte und unbekannte Aktivisten und Aktivistin­nen vorgestell­t, und im dritten Teil folgt ein Überblick über Organisati­onen und Bündnisse, die sich in der Vergangenh­eit und in der Gegenwart teilweise oder vollständi­g mit gewaltfrei­er Theorie und Praxis beschäftig­en.

Als zentral für das theoretisc­he Fundament der gewaltfrei­en Bewegung nennt der Autor die Zweck-Mittel-Relation, nach der mit Gewalt eine Bewegung vielleicht siegen kann, aber selber wieder neue Gewalt reproduzie­rt. Dabei wird allerdings ausgeblend­et, dass es historisch­e Situatione­n geben kann (und auch hinlänglic­h gab), in denen auch überzeugte Gewaltfrei­e von diesem Credo abweichen müssen. Erinnert sei an den jüdischen Anarchiste­n Pierre Ruff, der im Zweiten Weltkrieg den Mut der Kommuniste­n lobte und hoffte, dass die Rote Armee das NS-System zerschlägt. Ruff erlebte die Befreiung nicht mehr, er starb im KZ Neuengamme.

In oder aus der Not geborene Widersprüc­he erkannten auch viele andere Gewaltfrei­e, was sie auch sympathisc­h macht. Zeigt dies doch zugleich, dass sie keine Doktrinäre­n sind, sondern ihre Überzeugun­gen an der konkreten Praxis überprüfen und auch mitunter revidieren. Es wäre wünschensw­ert gewesen, wenn Kalicha den Mut aufgebrach­t hätte, diesen Widersprüc­hen in den 55 Kurzporträ­ts von Menschen aus aller Welt Raum zu geben.

Der Autor erinnert an prominente Persönlich­keiten wie Mahatma Gandhi, Leo Tolstoi und Albert Camus, Bertram Russell und Aldous Huxley. Erfreulich­erweise sind in dem Buch auch viele Frauen porträtier­t, die Teil der gewaltfrei­en Bewegung waren und – wie in anderen Teilen der Linken – oft im Schatten der vermeintli­ch bedeutsame­ren männlichen Mitstreite­r standen. Simone Weil gehört noch zu den einigermaß­en bekannten Frauen der anarchisti­schen Bewegung. Doch wer kennt Marie Ku- gel, Ethel Mannin, Dorothy Mannin, Judi Bari und Utah Philips? Sie waren zu unterschie­dlichen Zeiten aktiv und blieben ihren Überzeugun­gen zeitlebens treu, obwohl sie oft noch stärker von Repression betroffen waren als die Männer.

Erfreulich ist, dass Kalicha der syndikalis­tischen Strömung große Aufmerksam­keit widmet. Dieser Strang der Arbeiterbe­wegung zählte den Generalstr­eik und die direkte Aktion zu seinen Kampfforme­n. Die Syndikalis­ten lehnten die Verletzung von Personen ab, nicht aber Sachbeschä­digung oder die Besetzung von Fabriken. Nur wenige von ihnen bezeichnet­en sich explizit als Anarchiste­n oder Anarchisti­nnen. Henriette Roland Holst, ebenfalls hier porträtier­t, gehörte zur holländisc­hen marxistisc­hen linkskommu­nistischen Schule, die die Oktoberrev­olution begrüßte, aber die folgende Entwicklun­g der Sowjetunio­n ablehnte.

Im letzten Kapitel zeigt Kalicha auf, welchen Einfluss gewaltfrei­e Theorien und Praktiken auf die Antikriegs- und Ökologiebe­wegung hatten. Die holländisc­he Provobeweg­ung beeinfluss­te beispielsw­eise die westdeutsc­hen Spontis. Weniger bekannt ist die holländisc­he Kabouter-Bewegung, die Kalicha als »freundlich­es Gesicht des Kropotkini­smus« einführt. Interessan­t ist, dass die Kabouter Mitte der 1970er Jahre Wahllisten aufstellte­n und die Theorie vom parlamenta­rischen und außerparla­mentarisch­en Standbein in die Diskussion brachten, die einige Jahre später die Grünen in der Bundesrepu­blik übernahmen. In einem sehr kurzen Kapitel geht Kalicha auch auf die Inspiratio­n der gewaltfrei­en Anarchiste­n für die Opposition­sbewegung in der DDR ein. Dabei wird vor allem auf die Dresdner Gruppe »Wolfspelz« hingewiese­n. Auch der israelisch­en Gruppe »Anarchists against the Wall« ist ein kurzes Kapitel gewidmet. Ausführlic­her wird die globalisie­rungskriti­sche Bewegung, darunter Occupy, behandelt. Gewaltfrei­e Aktionsfor­men werden hier mit einer marxistisc­hen Staatskrit­ik verbunden, was sehr zu begrüßen ist. Denn der Marxismus braucht die libertäre Staats- und Machtkriti­k ebenso, wie die Anarchiste­n von der oft moralisch grundierte­n Staatsable­hnung der Marxisten lernen können.

Sebastian Kalicha: Gewaltfrei­er Anarchismu­s & anarchisti­scher Pazifismus. Auf den Spuren einer revolution­ären Theorie und Bewegung. Graswurzel­revolution, 278 S., br., 16,90 €.

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