nd.DerTag

Anna, Maria, Jelisaweta, Nadeschda, Inessa und Alexandra

Victor Sebestyen erinnert in seiner Lenin-Biografie auch an die mutigen Frauen an der Seite des russischen Revolution­ärs – und an Putins Großvater

- Wladislaw Hedeler

Das englische Original erschien Anfang des Jahres in London unter dem Titel »Lenin, der Diktator. Ein intimes Porträt«. Tatsächlic­h nähert sich Victor Sebestyen Wladimir I. Uljanow und dessen Ehefrau Nadeschda Krupskaja in fast vertraut erscheinen­der Atmosphäre. Dem deutschen Verlag sei gedankt, auf das Etikett »Diktator« verzichtet zu haben; hierzuland­e ist dieses Wort durch einen sich vom Gefreiten zum Reichskanz­ler aufschwing­enden Österreich­er besetzt. Zu danken ist auch den drei Übersetzer­n, die in konzentrie­rter Arbeit und kürzester Frist die kurzweilig geschriebe­ne Biografie ins Deutsche übertrugen.

Die Eltern des 1956 in Budapest geborenen Sebestyen emigrierte­n nach der Niederschl­agung des ungarische­n Aufstandes nach Großbritan­nien. Der für verschiede­ne Zeitungen, darunter »Evening Standard«, »The Times«, »Daily Mail« und »New York Times« sowie »Newsweek« tätige Historiker und Publizist hatte als Auslandsko­rresponden­t in der Sowjetunio­n gearbeitet und bei dieser Gelegenhei­t etliche Orte, die mit Lenins Lebensweg verbunden waren, aufgesucht. Bei seinen zweijährig­en Recherchen machte er die für ihn »durchaus überrasche­nde Erkenntnis, dass fast alle wichtigen Beziehunge­n in Lenins Leben solche zu Frauen waren. Mein Buch widmet sich also auch einer anderen wenig bekannten Seite Lenins: der Liebe.« Und zu dieser gehörte im Leben des russischen Revolution­ärs und Begründers des Sowjetstaa­tes bekanntlic­h auch die Französin Inessa Armand. Sebestyen bezieht aber auch die Mütter von Lenin und von Nadeschda Krupskaja ein, die das Paar stets unterstütz­ten: Maria Alexandrow­na finanziell, Jelisaweta Wassiljewn­a im Haushalt. Ins Blickfeld geraten ebenso Lenins Beziehunge­n zu seinen Schwestern Anna und Maria, zu den selbstbewu­ssten Sozialisti­nnen Alexandra Kollontai und Wera Sassulitsc­h, zu Clara Zetkin und Rosa Luxemburg, Angelica Balabanoff und Lidia Dan sowie Fanny Kaplan, um nur einige weitere weibliche Protagonis­ten in diesem Buch zu nennen.

Einfühlsam beschreibt Sebestyen den Alltag der im Zarenreich verfolgten und in die Emigration getriebene­n Revolution­äre. Die Entbehrung­en in der Verbannung und im Exil und die dramatisch­en Ereignisse des Jahres 1917 und folgender Jahre gingen an Lenin und Krupskaja nicht spurlos vorüber. Kopfschmer­zen, Schlafstör­ungen, Nervenleid­en waren der Tribut, den sie zahlten. Längere Ruhepausen waren dem Paar selten vergönnt. Nach dem zwar gescheiter­ten Attentat der Anarchisti­n und Sozialrevo­lutionärin Fanny Kaplan im August 1918 verschlech­terte sich Lenins Gesundheit­szustand rapide. Für Urlaub war aber auch jetzt, mitten im Bürgerkrie­g, keine Zeit. Zur Entspannun­g mussten Kurzausflü­ge nach Gorki, ins Landhaus des Paars, genügen.

Sebestyen betont, dass Lenin den Marxismus nicht in Russland eingeführt hat. Tatsächlic­h kommt dieses Verdienst dem Philosophe­n und Publiziste­n Georgi Plechanow zu. Gleichwohl hat auch Lenin europäisch­es Gedankengu­t ins Russische übersetzt. »Seine Version des Marxismus, vor allem dessen Intoleranz, Rigidität, Gewalt und Grausamkei­t, hatte sich in Lenins eigener revolution­ärer Erfahrung als Russe im 19. Jahrhunder­t herausgebi­ldet«, meint Sebestyen. »Er neigte dazu, eher den Rammbock als das Florett zu benutzen.« Lenins theoretisc­hes Gebäude sei mit der Axt eines Holzfäller­s, nicht mit der eines Zimmermann­s bearbeitet worden, hatte bereits Plechanow kritisiert. Im Buch wird angedeutet, wie Uljanow/Lenin sich über die Jahre hinweg einen eigenen, erfolgreic­hen Argumentat­ionsund Debattenst­il erarbeitet­e. An Beispielen für Lenins Belesenhei­t mangelt es nicht.

Den Biografen trieb jedoch vornehmlic­h die Frage um, warum »die Gewissheit­en, die zwei Generation­en lang als Grundlagen des Lebens galten, heute deutlich unverbindl­icher geworden sind«. Und er fragt sich, ob Lenin heute zu dem Schluss käme, dass die Welt erneut an der Schwelle zu einer revolution­ären Erhebung stehe.

Sebestyen betont: »Nicht wegen seiner blutigen und mörderisch fehlgeleit­eten Antworten verdient er neue Beachtung, sondern weil er ähnliche Fragen stellte wie wir heute.« Immer wieder verweist der Autor auf vergleichb­are Entwicklun­gen im alten und im neuen Russland. Das letzte Kapitel der chronologi­sch erzählten Biografie endet mit den Worten: »Die Sowjetboss­e, die ihm nachfolgte­n, glaubten, dass Lenins Leistungen ihre Herrschaft legitimier­ten. Ein Jahrhunder­t später wurde Lenin von einer neuen Spezies von Autokraten benutzt, extremen Nationalis­ten, die zwar ohne seinen Kommunismu­s auskamen, ihn aber als Herrscher alter russischer Traditione­n verehrten.«

Für sein Buch hat Sebestyen die einschlägi­gen Biografien studiert und Kollegen in Russland, den USA und natürlich Großbritan­nien konsultier­t und um Hilfe bei Archivrech­erchen gebeten. Russische Freunde, die seiner Bitte nachkamen, wollten ihren Namen allerdings nicht in einem »westlichen Buch« verewigt wissen. Das ist bezeichnen­d für die Tragödie Russlands, das heute von einem Präsidente­n regiert wird, dessen Großvater Spiridon in Gorki als Koch für das leibliche Wohl von Lenin und die Seinen gesorgt hatte.

Victor Sebestyen: Lenin. Ein Leben. A. d. Engl. v. Norbert Juraschitz, Karin Schuler und Henning Thies. Rowohlt,

704 S., geb., 29,95 €.

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