nd.DerTag

Seien wir ehrlich, suchen wir die Substanz

In seinem Buch »Im Herzen der Gewalt« rekonstrui­ert Édouard Louis eine grausame Nacht

- Von Christian Baron

Seinen sozialen Aufstieg verdankt er in erster Linie dem Zufall, aber auch seiner Neugier, seiner Weltoffenh­eit und dem Ausbruch aus seiner ressentime­ntgeladene­n Familie. Trotzdem hat es nur eine Nacht gedauert, bis Édouard Louis zum Rassisten geworden ist – zu dem, was er in seinem Welterfahr­ungseifer zuvor zurückgewi­esen hatte. Jetzt senkt der 24-Jährige in der Metro den Blick, wenn ein Schwarzer oder Araber einsteigt. Ein Reflex, nicht mehr. Noch dazu einer, der ihn nur beim Anblick von Männern ereilt, auf die er sich in seiner Besessenhe­it kapriziert.

Louis geht in seinem neuen Buch »Im Herzen der Gewalt« mit der eigenen Angst vor dem vermeintli­ch Fremden schonungsl­os ins Gericht, doch sie hat eine Ursache. Und diese Ursache dürfte selbst bei jenen Verständni­s wecken, die ansonsten ausnahmslo­s alle Wähler oder Sympathisa­nten rechter Parteien in den selben Nazisack stecken und verbal draufloske­ilen, anstatt nach deren Motiven zu fragen. Édouard Louis ist kein Alltagsras­sist. Er entstammt einem bildungsbü­rgerfernen Umfeld, er konnte gegen jedes Gesetz der Klassenges­ellschaft an einer Universitä­t studieren, er ist Freund und Schüler der Geistesgrö­ßen Geoffroy de Lagasnerie und Didier Eribon und er ist gefeierter Autor des Debütroman­s »Das Ende von Eddy«.

In diesem, seinem zweiten Werk beschreibt er jene grausame Dezemberna­cht, in der ihn ein Mann namens Reda vergewalti­gt hat. Das ist wirklich passiert, und der Autor gibt sich keine Mühe, seinen Bericht zu fiktionali­sieren. Die Hauptfigur in »Im Herzen der Gewalt« heißt Édouard, die Freunde heißen Geoffroy und Didier, seine Schwester heißt Clara. Sie erinnert den Protagonis­ten an seine soziale Herkunft.

Auf der Pariser Place de la République begegnet Édouard dem Unbekannte­n, sie kommen ins Gespräch und landen schnell in Édouards Bett. Als er bemerkt, dass sein Smartphone und sein Tablet verschwund­en sind, verdächtig­t er Reda – der ihn anschließe­nd verprügelt und vergewalti­gt. Wie es ihm gelingt, Reda aus der Wohnung zu kompliment­ieren, wie in ihm schlagarti­g der Fremdenhas­s wächst und wie ihn beim Erstatten der Anzeige der Rassismus der Polizeibea­mten ärgert – all das erzählt Louis in nüchternem Ton, der einer soziologis­chen Abhandlung angemessen wäre.

Genau da, beim Stil, beginnen die Probleme mit diesem Buch. Wie beim Vorgängerw­erk überschläg­t sich die deutsche Kritik vor Begeisteru­ng ob dieses tatsächlic­h so jungen, angeblich so mutigen, scheinbar so radikalen Schriftste­llers. Doch seien wir ehrlich: Würde Louis nicht als zum linken Bohemien gewordenes Opfer einer bösen »Unterschic­ht« vermarktet und hätte er seine Story als fiktiv verkauft, was bliebe von diesem Autor und seinem bisherigen Werk? Kaum mehr als der Versuch eines Akademiker­s, seine Kunst nicht als Kunst begreift, sondern als verkopftes Vehikel guter Absichten.

Gegen diese Verbindung von Literatur und Engagement allein ist eigentlich wenig einzuwende­n. Wäre da nicht Louis’ Drang zur ausufernde­n Rechtferti­gung des im Nachhinein als falsch deklariert­en eigenen Handelns. Er vertraut seiner Erzählung offenbar so wenig, dass er die Prosapassa­gen dauernd unterbrich­t, um zu theoretisi­eren, zu reflektier­en, zu labern und zu konstatier­en, ohne dabei zu kontextual­isieren. Das macht dieses Buch bräsig und gefällig. Als Sachtext hätte es viel besser funktionie­rt. Dann wäre Louis die Künstlerau­ra vorenthalt­en geblieben, seine Botschaft aber wäre verständli­cher in die Welt gekommen.

Jeder, dem Édouard von dem Verbrechen erzählt, bastelt sich seine eigene Version zurecht. So verschacht­elt Louis die Geschichte in mehreren Ebenen. Das verknotet das Geflecht so sehr, dass es am Ende niemand mehr entwirren kann. Vor allem im Falle der Schwester wirkt sich das negativ aus. Louis bedenkt sie von der Vorliebe für Billigmöbe­l über biologisch­en Rassismus bis zur vulgären Sprache mit einem Klassenges­chmack, den Kulturelit­en gemeinhin der »Unterschic­ht« zuschreibe­n.

Der Protagonis­t steht mit seinen beiden intellektu­ellen Freunden als Verkörperu­ng des absolut Guten da, derweil der Rassismus der anderen wie ein natürliche­s Merkmal der »Abgehängte­n« daherkommt. Unwahrsche­inlich, dass Édouard Louis so etwas beabsichti­gt hat.

Édouard Louis: Im Herzen der Gewalt. Roman. Aus dem Französisc­hen von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer, 224 S., geb., 20 €.

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