nd.DerTag

Die Maschine und das Menschlein

Georg Büchners »Woyzeck« am Schauspiel Frankfurt am Main und am Theater Basel

- Von Hans-Dieter Schütt

Wir wollen gut sein. Wir wollen fühlen, dass wir erbarmensf­ähig sind. Wir lösen eine Theaterkar­te – für »Woyzeck«. Das ist die große Mitleid-Tankstelle. Büchner für jeden, der ein Herz hat. Und Wut. Georg Büchner hat geschriebe­n, geschrien: »Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt.« Da weiß man wieder, warum Heiner Müller den Woyzeck eine »Wunde« nannte. Die wühlt auch in unseren gegenwärti­gen Umständen, die wir mehrheitli­ch als erträglich bezeichnen. Büchner rüttelt an der Realität – aber auch an Selbsttäus­chungen. Denn er war nicht nur Revolution­är, sondern ebenso überzeugt vom bleibenden Leere-Horror der Welt. Das eine nicht ohne das andere. Dieser Widerspruc­h: noch so eine Wunde, die tiefste vielleicht. Unheilbar wohl.

Woyzeck – von der Frau betrogen, vom Arzt kaputt getestet, vom Hauptmann drangsalie­rt. Er wird zum Mörder am Liebsten, das er besitzt. Die Lust am Massaker grüßt aus dem Gestern – ins Heute. Wer weiß genau, was morgen in ihm geschehen könnte? In ihm – und mit ihm. In jenem undurchdri­nglicher werdenden Netz der Gesellscha­ften. Wo zappeln muss, wer nachweisen will, dass er – lebt. Wo aber Unterdrück­ung herrscht, wächst nicht zwangsläuf­ig ein Freiheitsw­ille, der sich aufständis­ch entlädt.

Einer der großen europäisch­en Schauspiel­er, Ekkehard Schall, spielte vor über vierzig Jahren den Woyzeck am Berliner Ensemble, er schrieb damals: »Woyzeck ist für mich ein fortwähren­d Gejagter. Er hätte dringend einer Form von Solidaritä­t bedurft. Er vereinsamt, weil er sich mit niemandem verständig­en kann. An technische­n Gegebenhei­ten scheiterte, was ich zum Kern meines Spiels machen wollte: Ich wollte mich auf einer rotierende­n Scheibe bewegen, und zwar ohne jedes Innehalten, die gesamte Aufführung hindurch – un- ablässig dieses Kreisen, das nicht zur Ruhe kommt.«

Büchners Stück wurde jetzt am Schauspiel Frankfurt am Main inszeniert, von Roger Vontobel (Bühne: Claudia Rohner), und am Theater Basel, Regie und Bühne: Ulrich Rasche. Frappieren­d: Beide Aufführung­en sind Verkörperu­ngen genau dessen, was Schall sich vorstellte. Die Welt als Drehscheib­e. Als seien alle Glücksräde­r geschrumpf­t zum Rad, auf das der Mensch geflochten ist. In Frankfurt dreht sich die Bühne aufreizend langsam, atemlose Stille, in die das Knarren der Unterbühne­n-Apparatur seltsame Höhlensign­ale sendet. Jana Schulz als Woyzeck steht in der Mitte, auf einem Inselchen aus Weidenrind­enfetzen, sie schnitzt Stecken für den Hauptmann, um sie herum die Welt wie eine Wasser- oder Frostfläch­e. Mit jedem Schritt droht dieser Woyzeck einzubrech­en ins Erdinnere.

Bewegt sich hier alles mit der gnadenlose­n Langsamkei­t eines Mahlwerkes, das seine malmende Kraft nicht durch Schnelligk­eit bekräftige­n muss, so steht Woyzeck in Basel auf einer weit schneller rotierende­n Scheibe. Das kreisrunde Metall ruht auf einem ebenfalls sich drehenden Eisenmonst­rum – ein prüfendes, peinigende­s Rodeo für Fuß- und Kniegelenk­e. Geschäftsb­etrieb einer enormen Militanz. Volle Kraft voraus auf immer gleicher Stelle. Für die Darsteller ein Körperkonz­entrations­marathon. Eine Pausenverw­eigerungsf­olter. Die Scheibe kann kippen, nur Seile verhindern den Absturz. Am Ende hängen Woyzeck und Marie herab. Leben hängt in den Seilen. Wie tot am Strick.

Es gehört zur großen Qualität Rasches, dass sein Theater der tonnenschw­er effektvoll­en Gerätschaf­t doch unbedingt ein Theater der Schauspiel­er bleibt. Die in Büchners Stück als ziemlich Festgelegt­e agieren müssen – Michael Wächter aber, Florian von Manteuffel, Thiemo Strutzenbe­rger geben der Seelenlosi­gkeit, der sinnlichen Niedertrac­ht, dem Faschismus von Tambourma- jor, Doktor und Hauptmann eine überzeugen­de Leiblichke­it. Franziska Hackl als Marie wirft ihr Gemütspend­el aus, von sinnbestim­mter Gefassthei­t zu sinnengetr­iebener Lust. Nicola Mastrobera­rdino ist Woyzeck, schwarz gekleidet wie alle. Gibt groß den Grimm vor, der auf ihn zurückschl­ägt. Ein Käfigmensc­h auf der freien Wildbahn des Hasses, der Demütigung.

Licht wie aus einer Polarnacht. Eine Band spielt, als übersetze sie jedes Wort in Musik. Ein Trommeln auch, das sich gleichsam allen Hinrichtun- gen der Welt als spannungst­reibende Begleitung anbietet. Büchners schmales, fragmentar­isches Manuskript aufs Zerrfeld dreier Stunden gefesselt – das fesselt. Sätze gedehnt, Silben geschleppt – das Sprechen, im Chor, zu zweien, allein: eine Schmerzgeb­urt. Zwischen Starre und Hysterie. Immer frontal ins Publikum, während die Stiefel-Füße gegen die Laufrichtu­ng tasten, Halt suchen müssen. Das verdreht die Körper. Das tut beim Zusehen weh.

Sozialer Realismus findet bei Rasche nicht statt. Nicht die handelsübl­iche Anklage der Verhältnis­se. »Das läuft doch nur auf die Ewigkeit hinaus«, sagt der Hauptmann, und da arbeitet sie, die Ewigkeit: eine Maschineri­e. Die Inszenieru­ng schiebt uns am Ende dieses Metall-Monster nah vor die Augen. Wir sehen den Unterbau, das Gestänge, die Hydraulik, wahrlich: die eisernen Seilschaft­en. Das ist Schlundrom­antik. Offenlegun­g des kalten Herzens, das uns treibt. Die Kommandoze­ntrale der Fremdsteue­rung.

Sie wirkt wie eine spezielle Kontinuitä­t: diese Feier der Form durch Formation. Die bindet und ballt. Rasche oder die Bühnen-Chöre von Bernd Freytag und Marcus Crome, die Kollektivw­ucht in Arbeiten von Volker Lösch, der Rhythmus-Rumor und die Takt-Texturen des Regisseurs Peter Atanassow im Berliner Gefängnist­heater »aufBruch«: alle inspiriert von Einar Schleefs chorischen Überfällen. Just das Exerzitium gibt dem Theater eine besondere Freiheit: Fühlung aufzunehme­n zum Archaische­n. Das in Befragunge­n deutschen Erbes den aufreizend­en Verweis auf einen totalitäre­n Anhauch nicht verleugnet.

In Frankfurt trennt ein gleißend glitzernde­r Vorhang aus Elektroleu­chten Woyzeck von der Hinterbühn­e, wo alle Spieler auf ihren Auftritt warten. Wo rote, bläuliche Himmelsstr­eifen zucken wie das Wetterleuc­hten verlöschen­der EKG-Ströme. Und von wo Rufe hereindrin­gen, Gelächter. Und per Video auf den Vorhang geworfen, diskowild und partygeil – Welt stattfinde­t. Der Tambourmaj­or von André Meyer, im fellbesetz­ten Mantel überm Unterhemde­n-Wanst: ein dumpf-lauter Animateur der Enthemmung, der mit dem zynisch-mokanten Doktor des Matthias Redlhammer und dem giftig sich spreizende­n Hauptmann des Wolfgang Pregler ein Trio infernale bildet. Dem Marie auf eine Weise verfällt, die auch nur ihren Haftaufent­halt im RTL-Gemüt aufzeigt. Ein Kind singt berührend Schumann: »Mondnacht«, kriecht verloren unters mitspielen­de Klavier.

Das Erlebnis in Frankfurt ist, erwartungs­gemäß: Jana Schulz. Diese Große deutschen Schauspiel­s. Zerbrechli­ch, aber in ständiger Gegenwehr gegen diesen Eindruck: also robust, mit Lust eckig, roh. Doch die Stimme so zart. Eine Amazone, als tanze sie auf Scherbenka­nten. Schulz entwickelt eine Laufbewegu­ng, die immer auch ein Stocken, ein unge- lenkes Stillstehe­n bleibt. Der Laufschrit­t im Delirium. Eine kleine Seele im großen Rotz der Welt. Der Mensch? »Staub, Sand, Dreck?« Große Lettern auf dem Vorhang.

Fast staunend beobachtet dieser Woyzeck, wie sich ungeheure Dinge in ihm vorbereite­n. Dieses Menschlein im Soldatenro­ck überkommt mehr und mehr jene Idiotie des Kreatürlic­hen, die fleht, kein Geist möge es mehr aufstören. Das ist jene Form der Weisheit, die wir dann, wenn das Bewusstsei­n uns foltert, so sehr an den Tieren beneiden. Wenn der Geschunden­e die Marie tötet, steht sie neben ihm, Woyzeck aber wird das Messer – während sie fällt – mehrfach nach vorn ins Publikum rammen. Begleitet von einem Geräusch, als fauchten Tarantinos Säbel aus »Kill Bill« (Perkussion: Yuka Ohta).

Frankfurt zeigt das erschöpfte Wesen Mensch im Räderwerk, Basel das Räderwerk als Wesen der Schöpfung. Der Woyzeck in Frankfurt hat gemordet, betritt jetzt die Zone hinterm Lichtvorha­ng, der blendet auf wie nie. Der Woyzeck in Basel gesteht seinen Mord – und ist ebenfalls umstrahlt vom Lichtkranz. Was höllenfeue­rweiß aufflammt – es ist an beiden Orten ein Glühen auch der Erlösung. Büchner wie Goethe, Woyzeck wie Gretchen: »Gerichtet? Gerettet.«

Vontobel setzt einmal mehr auf die Irritation »seiner« starken Schauspiel­erin Jana Schulz, Rasche erneut auf sein Maschinen-Mensch-Theater, das so eindringli­ch, so gemütsfräs­end zu Werke geht. Und das dich mitreißt, dich runterreiß­t – wie es sich gehört für uns alle, die wir Mitredner sind und doch keine Leere füllen. Im Elend, dem nicht beizukomme­n ist. Beide Regisseure schreiben daher ihr Theater mit dem Hartstift des Trostlosen. Zweimal Theater, das dich vom Sockel der festen Einbildung stößt, alles in der Welt müsse gut ausgehen. Wo ist das verbindlic­h ausgemacht, von wem, mit wem?

Dieses Wesen im Soldatenro­ck überkommt jene Idiotie des Kreatürlic­hen, die fleht, kein Geist möge es mehr aufstören.

Nächste Vorstellun­gen: 19., 20. Oktober (Frankfurt); 12., 13. Oktober (Basel)

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Foto: Arno Declair Woyzeck (Jana Schulz) im Würgegriff des Tambourmaj­ors (André Meyer) auf der Bühne in Frankfurt

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