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Hilflos gegen Finanzscho­cks

Ökonom Wolfgang Kühn führt die EU-Krise auf die großen sozialen Disparität­en zurück

- Von Kurt Stenger

In seinem neuen Buch legt der Berliner Ökonom Wolfgang Kühn den Finger tief in die Wunde der verfehlten europäisch­en Integratio­n – und verlangt eine »Reform an Haupt und Gliedern«. Eigentlich gehört es zum Gründungsv­erständnis der EU, die kulturelle Vielfalt der Mitgliedst­aaten und Regionen zu akzeptiere­n, aber auch die sozialen Disparität­en zwischen diesen zu verringern. Von Letzterem ist wenig geblieben: Die EU ist wirtschaft­lich, sozial und politisch tiefer gespalten denn je. Das schürt Unzufriede­nheit, der perfekte Nährboden für Brexit-Befürworte­r, für neue Nationalis­ten und Regionalis­ten.

Dies ist die Erkenntnis des Ökonomen Wolfgang Kühn, der in seinem neuen Buch den Finger tief in die Wunde der verfehlten Integratio­n legt: »Inzwischen ist die EU nach ihrer praktizier­ten Wirtschaft­s- und Finanzpoli­tik nicht mehr eine Solidargem­einschaft, sie hat sich in eine Wettbewerb­sgemeinsch­aft transformi­ert«, konstatier­t er. Armen Regionen, die aufholen wollen, komme dies nicht zugute: »Die ›starken‹ Länder behauptete­n ihre Positionen, die ›schwachen‹ Länder blieben schwach«, so Kühns Fazit gut eine Dekade nach der EU-Osterweite­rung. Das durchschni­ttliche Bruttoinla­ndsprodukt je Einwohner in Osteuropa liegt bei gerade einmal 70 Prozent des EUDurchsch­nitts. Und zuletzt hat sich der Aufholproz­ess spürbar verlangsam­t. Deshalb ist die einstige EU-Begeisteru­ng vielerorts abgelöst worden durch Ernüchteru­ng. Europäisch­e Ideale wie Solidaritä­t und gleichbere­chtigte Zusammenar­beit werden angezweife­lt oder sind gar verpönt. Besonders der Umgang mit der »Flüchtling­skrise« von 2015 habe die Brüche in der EU offengeleg­t.

Wolfgang Kühn, langjährig­er Wirtschaft­sstatistik­er erst in der DDR und nach der Wende auch im gemeinsame­n Statistika­mt der neuen Bundesländ­er, wartet in seinem Buch mit einer Fülle von Daten und Fakten etwa zu Bevölkerun­g, Migrations­bewegungen, Beschäftig­ung, privatem Konsum und Armut in der EU auf. Der Leser wird davon aber nicht erschlagen, sondern erhält ein ungeschönt­es Bild der Lage. Das Mitglied der Arbeitsgru­ppe Alternativ­e Wirtschaft­spolitik, dem nd-Leser als Autor wirtschaft­spolitisch­er Beiträge bekannt, erläutert zudem auf engem Raum leicht verständli­ch gesamtwirt­schaftlich­e Zusammenhä­nge und betreibt Ursachenfo­rschung.

Die für die EU insgesamt konstatier­ten Widersprüc­he traten laut Kühn in der Eurozone während der Finanzkris­e verschärft auf. Auch hier machte sich das Fehlen einer politische­n Integratio­n schmerzlic­h be- merkbar. »Keine europäisch­e Zentralreg­ierung konnte eingreifen, um die Schocks finanzpoli­tisch zu absorbiere­n«, schreibt Kühn. Stattdesse­n habe Deutschlan­d die Rolle eines kompromiss­losen Hegemons übernommen, der mit einer verfehlten Finanzpoli­tik nach der Prämisse der »schwarzen Null« die Probleme nur verschärft­e. Die eigentlich­e Ursache, wachsende Ungleichge­wichte im Außenhande­l der Euroländer und die schwache deutsche Binnenkonj­unktur gerieten völlig aus dem Blick.

In seinem Buch betreibt Kühn weder das unter Rechten noch das unter manchen Linken in Mode gekommene EU-Bashing, noch greift er zu unkritisch­en Bekenntnis­sen pro Europa. Eine Rückkehr zum Nationalst­aat, so sein Credo, bediene eine reaktionär­e, engstirnig­e Politik und könne globale Probleme nicht bewältigen. Ein Weiter-so würde dagegen die sozialen Spaltungen und Desintegra­tionstende­nzen noch verschärfe­n. Notwendig sei deshalb eine »Reform an Haupt und Gliedern« – oder wie Kühn resümiert: »Die Euro-Zukunft hängt maßgeblich von einem überzeugen­den Konzept zur Überwindun­g der ökonomisch­en und sozialen Ungleichge­wichte durch wirtschaft­liche und finanzpoli­tische Koordinati­on ab.«

Wolfgang Kühn: Wer bezahlt den Untergang der EU?, edition berolina, Berlin 2017, geb., 188 S., 14,99 €.

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