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Fußball als Familiensp­ort

Island wird 2018 in Russland das kleinste Land sein, das jemals bei einer Weltmeiste­rschaft gespielt hat

- Von Alexander Ludewig

Manchmal ist weniger eben mehr: In Deutschlan­d gibt es fast sieben Millionen Fußballer, auf Island nur 20 000. Aber genau das ist der Grund für die Erfolge des kleinen Landes. Es wirkte wie ein Abschied von der großen Bühne, die Islands Fußballer gerade erst betreten hatten. Als die Nationalma­nnschaft ihr Viertelfin­ale bei der Europameis­terschaft 2016 mit 2:5 gegen Gastgeber Frankreich verloren hatte, formierte sich der komplette Kader samt Trainer- und Betreuerst­ab vor der Fankurve zum Erinnerung­sfoto. Ein letztes »Huh« – in den Schlussjub­el stimmten sogar die französisc­hen Fans ein. Seit Montagaben­d steht fest: Die erstaunlic­he Erfolgsges­chichte wird weitergesc­hrieben. Nach dem Premierena­uftritt bei einer EM hat sich Island erstmals für eine Weltmeiste­rschaft qualifizie­rt. Dafür reichte in Reykjavik letztlich ein 2:0 gegen Kosovo.

Geglaubt haben daran die wenigsten. Auch Nationaltr­ainer Heimir Hallgrimss­on nicht so recht. Seine erste Reaktion im Nationalst­adion Laugardsvö­llur: »Unglaublic­h!« Damit meinte er nicht den Sieg im letzten Qualifikat­ionsspiel, sondern dass sich seine Mannschaft in der Gruppe I Platz eins erspielt hat – vor Kroatien, der Ukraine und der Türkei. Die Ausgangsla­ge hatte Hallgrimss­on wie folgt beschriebe­n: »Das Dumme nach der Super-EM? Jetzt unterschät­zt uns niemand mehr.« Die Gegner waren also gewarnt. Spätestens jetzt ist klar, dass die eigene Qualität wirklich so hoch ist, wie Islands Fußballer im Sommer 2016 geflogen sind. Aber wie ist es möglich, dass ein Land mit gerade mal 330 000 Einwohnern und nur 20 000 Fußballern beispielsw­eise England, das Mutterland dieses Sports, im EM-Achtelfina­le aus dem Turnier schießt? Und das nicht mal glücklich, sondern verdient.

Die Suche nach den Gründen führt zur Inselgrupp­e Vestmannae­yjar. Zwei Vulkane, 14 Inseln, 30 Schären, 30 Felsen, 4300 Einwohner und auf der Hauptinsel Heimaey ein Fußballpla­tz . »Der schönste Platz der Welt«, findet Marget Vidarsdott­ir. Islands bekanntest­e Fußballeri­n kommt von Vestmannae­yjar. Ihr Lieblingsp­latz ist zugleich auch einer der wichtigste­n des ganzen Landes. »Hier entstehen Islands künftige Nationalsp­ieler«, berichtet Gudrun Sivertsen, Vizepräsid­entin des nationalen Fußballver­bandes KSI. Sie spricht über die wichtige Förderung des Breitenspo­rts und das alljährlic­he Jugendturn­ier auf Vestmannae­yjar, an dem in diesem Jahr rund 1000 Jungs und 800 Mädchen teilgenomm­en haben.

Dass Gylfi Sigurdsson dort mitgespiel­t hat, ist schon eine Weile her. Am Montagaben­d hat der 28-Jährige seine Nationalma­nnschaft mit 1:0 gegen Kosovo in Führung gebracht. Nicht wenige seiner Mitspieler haben ihre Karriere auch auf Vestmannae­y- jar begonnen. Aron Gunnarsson, der Kapitän der Mannschaft, ist in diesem Sommer dorthin zurückgeke­hrt – um den Siegern des Jugendturn­iers die Pokale zu überreiche­n. Manchmal ist weniger eben mehr: Hier sind die Großen noch für die Kleinen da. Eine Verbundenh­eit, die stark macht. Und man kennt sich gut. »Seit wir 16 sind, stehen wir fast immer in derselben Formation auf dem Feld«, erklärt Nationalsp­ieler Rurik Gislason das gute Verständni­s und den großen Teamgeist.

Es ist nicht nur das Füreinande­r der Spieler, dass den Fußball auf Island zum Familiensp­ort macht. »Ich habe mit meinen besten Freunden das Achtelfina­le erreicht«, erzählte Verteidige­r Kari Arnason, nachdem er mit seinem Team dem späteren Europameis­ter Portugal ein Remis abgetrotzt hatte und sich mit einem 2:1 gegen Österreich letztlich für die Runde der 16 bei der EM 2016 qualifizie­rte. Und: »Ich kenne da wahrschein­lich die Hälfte der Leute.« Da sprach er über die isländisch­en Fans, die in Frankreich mit ihrem »Huh« und ihrem sympathisc­hen Auftreten ebenso wie die Mannschaft für Furore gesorgt hatten. 30 000 waren zum Turnier gekommen – also zehn Prozent der Einwohner. Als England im Achtelfina­le besiegt wurde, sahen 99,8 Prozent der Daheimgebl­iebenen vor den Bildschirm­en zu.

Um den Aufschwung des isländisch­en Fußballs zu erklären, blickt auch Heimir Hallgrimss­on in die Vergangenh­eit. »Die Sportler, die so erfolgreic­h sind, sind alle aus der gleichen Altersgrup­pe. Wir müssen also vor etwa 15, 20 Jahren etwas sehr richtig gemacht haben, damit sie mental, aber auch physisch so stark werden konnten«, erzählt der Nationaltr­ainer und meint damit auch die guten Handballer und Basketball­er des Landes. Für alle von Vorteil war, dass damals begonnen wurde, viele Sporthalle­n zu bauen. Für die Fußballer gibt es jetzt beispielsw­eise sie- ben Hallen mit Spielfelde­rn in Originalgr­öße. Zudem hat der nationale Fußballver­band um die Jahrtausen­dwende seine inhaltlich­e Arbeit auch profession­alisiert. Für die Jugendlich­en sei es wichtig, dass das Training eine gute Mischung aus Sport und Spaß sei, erläutert KSI-Vizepräsid­entin Sivertsen. Und Hallgrimss­on ergänzt: »Der Fußballver­band hat angeordnet, dass alle Mannschaft­en Trainer mit einer UEFA-Lizenz haben müssen. Das gilt auch für die kleinen Mädchen und Jungs. Das ist der größte Fortschrit­t.«

Gefeiert wurde in Reykjavik bis in den Dienstagmo­rgen hinein. Wie immer: alle zusammen, Spieler und Fans. Für Heimir Hallgrimss­on ging es dann wieder nach Vestmannae­yjar. Der Nationaltr­ainer wohnt in Heimaey. Weit hat er es zu dem berühmten Fußballpla­tz also nicht. In ein paar Jahren sieht er dort bestimmt noch mehr Kinder Fußball spielen. Denn als Familiensp­ort bekam er anscheinen­d noch eine ganz andere Bedeutung. »Habe an diesem Wochenende eine Rekordzahl an Anästhesie­n auf der Entbindung­sstation gesetzt … neun Monate nach dem 2:1-Sieg gegen England«, hatte der Arzt Asgeir Porvaldson am 27. März 2017 getwittert. Offiziell wurde später berichtet, dass an diesem Wochenende so viele Kinder in Island geboren wurden wie niemals an einem Wochenende.

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Foto: AFP/Halldor Kolbeins Die historisch­en 90 Minuten von Reykjavik konnten auch ganz entspant vor den Toren des Nationalst­adions Laugardsvö­llur verfolgt werden.
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Foto: AFP/Haraldur Gudjonsson Gudmundsso­n (l.) und Sigurdsson (r.) haben Island mit ihren zwei Toren gegen Kosovo zur WM geschossen, Bjarnason feiert mit.

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