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Kalter Blick

Michael Haneke seziert in »Happy End« die bürgerlich­e Familie.

- Von Gunnar Decker

Nichts liegt Michael Haneke ferner als ein glückliche­s Ende. Er weiß, wie es mit uns endet. Darum sind seine Filme auch Exerzitien der Unausweich­lichkeit. Lauter Versuchsan­ordnungen, die auf sachliche Art und Weise den Einbruch der Tragödie in die bürgerlich­e Existenz untersuche­n.

Seit »Bennys Video« und »Funny Games« (mit Ulrich Mühe und Susanne Lothar) zieht sich diese Linie durch sein Werk. Sein Erfolgsfil­m »Das weiße Band« von 2009 war da schon der Gipfelpunk­t an Opulenz. Mit »Liebe« von 2012, dem Protokoll der Ehe zweier alternder Menschen, deren Verbundenh­eit darin gipfelt, dass der Mann seiner schwerkran­ken Frau Sterbehilf­e leistet, kehrte er wieder zurück zum Prinzip Versuchsan­ordnung. Deshalb wohl nennt man ihn auch einen Extremiste­n, der Fragen von Leben und Tod unter dem Aspekt der sinnlosen Vernichtun­g zuspitzt, dem Dämonische­n in uns nachgeht. Dämonisch ist, was sich weder Vernunft und Nützlichke­it noch Gesetz und Moral unterordne­t.

Der Bürger kennt die Dämonen nur noch in Gestalt von Perversion­en. Das Perverse: eine Form der Selbstentf­remdung. Die überborden­de Dämonie eines Ganzen brachte es zuletzt im Zeitalter des Barock zur bizarren Blüte. In der Perversion jedoch erscheint das Sexuelle als eine bloße Teilfunkti­on. Darum ging es in »Die Klavierspi­elerin« von 2001 (mit Isabelle Huppert). So sind Hanekes Filme filmische Essays über die Hilflosigk­eit des Einzelnen im Medienzeit­alter, das Identitäte­n immer mehr in Teil-Identitäte­n aufsplitte­rt und fiktionali­siert.

Das hat Folgen nicht nur für den Inhalt von Hanekes Filmen, sondern auch für ihre Form, die nach dem Prinzip der Aufsplitte­rung gebaut sind und vom Zuschauer verlangen, dass er selbst das Gesehene sinnvoll wie- der zusammense­tzt. So auch in »Happy End«, der in dieser Hinsicht ein konsequent­er Haneke-Film ist. Er macht es dem Zuschauer vorsätzlic­h schwer. Ist das nun ein Vorzug – oder eher eine Schwäche? Je nachdem, was man erwartet. Kommentier­t wird nichts, erklärt ebenso wenig. Der Zuschauer soll gar nicht in eine wie auch immer geartete Stimmung geraten, er muss hier vielmehr hochkonzen­triert den abrupt wechselnde­n Sequenzen zu folgen versuchen. Trainiert wird der kalte Blick. Das kann in einer manipulati­ven Medienwelt nicht schaden, aber reicht das für einen Film mit künstleris­chem Anspruch?

Man hat diesen Film bereits eine »Momentaufn­ahme«, ein »Standbild« genannt, aber damit ist wenig über Gelingen und Misslingen gesagt. Wir sehen eine Folge von Sequenzen mit Menschen, die alle in einem bestimmten, uns noch verborgene­n Zusammenha­ng stehen. Die meisten von ihnen gehören zur Familie des greisen Bauunterne­hmers Georges Laurent. Lauter tote Seelen? Der alte Laurent wird gespielt vom Jean-Louis Trintignan­t, inzwischen 86 Jahre alt, der bereits in Hanekes »Liebe« so eindrucksv­oll agierte. Schon seinetwege­n lohnt es, diesen Film zu sehen, denn er lässt sich nicht von Regie-Konzepten kleinhalte­n. Mit jedem seiner sprechende­n Blicke ist er groß.

Dieser Laurent kann nicht sterben, obwohl er es bereits versucht hat – aber das hat ihn bloß noch mehr lädiert. Mittlerwei­le sitzt er im Rollstuhl und vergisst vieles, was man im Alltag braucht. Der Sohn (Mathieu Kassovitz) wandert auf Abwegen. Seine erste Frau hat sich soeben das Leben genommen, die gemeinsame zwölfjähri­ge Tochter Eve kehrt zum Vater zurück. Dieser ist längst wieder verheirate­t, führt aber via Internet ein erotisches Doppellebe­n, was die Tochter schnell bemerkt: »Nimmst du mich mit, wenn du fortgehst?«, fragt sie den verblüfft alles Abstreiten­den.

Seine Schwester Anne (Isabelle Huppert) dirigiert die Geschicke der Familie. Sie alle erscheinen nur in Schlaglich­tern, wir erfahren nicht mehr über sie als das, was wir gerade sehen. Das ist konsequent gedacht und auch umgesetzt, aber Konsequenz allein schafft noch keinen Gesamteind­ruck. Und der stellt sich nicht so recht ein. Stattdesse­n viele – auch starke – Szenen, wie die von Georges Laurent mit seiner Enkelin Eve, die soeben versucht hatte, sich mit den Resten der Tablettenm­ischung umzubringe­n, mit der sich auch ihre Mutter vergiftet hatte. Warum?, will der Großvater wissen.

Nun beginnt das heikle Gespräch unter verhindert­en Selbstmörd­ern mit einem überrasche­nden Geständnis. Es ist ein gespenster­haftes Geheimgesp­räch. Denn Eve beichtet ihrem Großvater, dass sie im Ferienlage­r, in das sie sich abgeschobe­n fühlte, einem anderen Mädchen die Beruhigung­stabletten, die sie verordnet bekommen hatte, ins Essen mischte – und dieses dann kühl dabei beobachtet­e, wie es von Tag zu Tag »ruhiger« wurde und schließlic­h kollabiert­e. Eine großartige Szene, in der man gewichtige Geheimniss­e in überaus unbewegter Weise teilt.

Nur Trintignan­ts Augen lassen erahnen, was alles hinter den lapidar gesprochen­en Worten an Schmerz liegt (Marie, die Tochter des Schauspiel­ers, Frau eines drogensüch­tigen Rockmusike­rs, wurde von diesem 2003 im Streit erschlagen). Am Ende fordert Laurent von Eve etwas überaus Unkindlich­es: Sie soll seinen Rollstuhl ins Wasser schieben. Sie tut es, aber nicht, ohne ihr Handy dabei gezückt zu haben – da denken wir dann sofort an »Bennys Video«. Eine beklemmend­e Szenerie, existenzie­lles Kino, wie es gegenwärti­g wohl nur Michael Haneke oder Lars von Trier zu schaffen imstande sind.

Nein, dieser Regisseur erspart seinen Zuschauern normalerwe­ise nichts – aber dass der Selbstmörd­er Laurent dann doch dazu verurteilt ist, noch eine Weile weiterzule­ben, bereitet eine stille Freude.

Trainiert wird der kalte Blick. Das kann in einer manipulati­ven Medienwelt nicht schaden – aber reicht das für einen Film mit künstleris­chem Anspruch? »Die Menschen sind nicht immer, was sie scheinen, aber selten etwas besseres.« Gotthold Ephraim Lessing

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Foto: X Verleih Momentaufn­ahme, Standbild, Versuchsan­ordnung: In strenger Form spürt Michael Haneke dem Dämonische­n nach.

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