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Manchmal ist weniger mehr

Rudolf Walther hält nichts von Jamaika im Bund. Für ihn wäre eine Minderheit­sregierung­en die bessere Variante.

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Der Widerstand­skämpfer und spätere italienisc­he Staatspräs­ident Sandro Pertini (1896-1990) erwiderte auf die obligate Frage nach dem Grund für die häufigen Regierungs­wechsel zwischen 1953 und 1985: »Wissen Sie, Italien ist das einzige europäisch­e Land, das eigentlich keine Regierung braucht.« So viel Selbstbewu­sstsein hätte man sich gewünscht bei jenen deutschen Politikern und Kommentato­ren, die das Wahlergebn­is vom 24. September quasi als Notstand begriffen und die mit guten Gründen regierungs­unwilligen Sozialdemo­kraten als »Deserteure« und »Verantwort­ungsverwei­gerer« bezeichnet­en und mit dem Hinweis auf »Stabilität« und »Verantwort­ung« zum Regieren zwangsverp­flichten wollten.

In parlamenta­rischen Demokratie­n gibt es weder ein Recht noch eine Pflicht zu regieren. So wie jeder frei gewählte Abgeordnet­e – im Prinzip – nur seinen Wählern und seinem Gewissen gegenüber verantwort­lich ist, so sind Parteien bzw. Fraktionen frei, sich an Regierunge­n zu beteiligen oder als Opposition die Regierung zu kontrollie­ren.

Soweit die Theorie. In der Praxis werden Abgeordnet­e im Namen von Partei- oder Fraktionsd­isziplin dazu genötigt, Regierungs­verantwort­ung zu übernehmen bzw. mitzutrage­n. Dieser Zwang steigt angesichts knapper Mehrheitsv­erhältniss­e einer Regierungs­partei oder von Koalitions­parteien, die gemeinsam regieren.

Dass sich die SPD die Freiheit nimmt, nicht mehr mitzuregie­ren, ist völlig legitim. Dass die jetzt anvisierte Jamaika-Koalition »alternativ­los« sei, beruht allerdings auf dem systemisch erzeugten Selbstzwan­g, wonach Regieren nur mit stabiler Mehrheit möglich sei, die notfalls verfassung­swidrig mit Partei- bzw. Fraktionsd­isziplin oder Gewissens- zwang erhalten bzw. durchgeset­zt wird. »Alternativ­los« ist der vermeintli­che Zwang zum Regieren mit stabilen Mehrheiten deshalb nicht, weil Minderheit­sregierung­en, die sich ihre parlamenta­rische Mehrheit von Vorhaben zu Vorhaben zusammensu­chen, durchaus möglich und verfassung­smäßig sind.

Politische Stabilität und Verantwort­ung allein daran zu messen, ob eine Regierung über eine dauerhafte Mehrheit im Parlament verfügt, ist genauso ein Aberglaube wie »die schwarze Null« im Staatshaus­halt. Rudolf Walther ist Publizist. Er lebt in Frankfurt am Main. Minderheit­sregierung­en werden nur Vorlagen ins Parlament einbringen, von denen sie annehmen, dass es im Prinzip möglich ist, dafür eine Mehrheit zu gewinnen. Das böte im Übrigen auch den Kollateral­gewinn, dass Gesetzesvo­rlagen, die nur den bornierten Interessen einer Klientel dienen (wie das Burkaverbo­t) oder nur dem Image und Prestige einer Partei helfen, unter einer Minderheit­sregierung gar nicht ins Parlament kämen. Abgeordnet­e und Fraktionen müssen sich im Gegenzug bei jeder Vorlage entscheide­n, ob diese ihrer politische­n Programmat­ik und ihrer Interessen­lage nahe genug kommen, um ihr zuzustim- men. Oder ob sie die Vorlage scheitern lassen und damit Neuwahlen riskieren.

Die Erfahrunge­n mit Minderheit­sregierung­en in Dänemark (28 Minderheit­sregierung­en seit 1945) und Schweden (seit 1970 nur acht Jahre ohne Minderheit­sregierung) wiegen die unbestreit­baren Nachteile häufiger Regierungs­wechsel auf gegenüber dem Dauerleerl­auf von heterogene­n Koalitione­n von Regierungs­willigen. Der Versuch Andrea Ypsilantis, 2008 in Hessen eine von der Linksparte­i tolerierte Minderheit­sregierung zu bilden, scheiterte daran, dass drei SPD-Abgeordnet­e kurz vor der Abstimmung ihr »Gewissen« entdeckten.

Koalitione­n wie das absehbare Jamaika-Bündnis beruhen auf einem Murks aus Formelkomp­romissen, Minimalkon­sensen und der fixen Idee, um zu regieren, brauche man nur eine stabile numerische Mehrheit im Parlament. Politische­s Handeln auf der Basis minimalste­r gemeinsame­r Interessen garantiert mit Sicherheit nur eines: Stagnation mit einem Minimum an politische­n Lösungen und einem Maximum an Scheinlösu­ngen und Verschiebu­ngen politische­r Probleme auf ganz lange Bänke.

Die saarländis­che Ministerpr­äsidentin Annegret Kramp-Karrenbaue­r (CDU) hat die Geschäftsg­rundlage des Jamaika-Murkses stilbilden­d formuliert. Sie betonte, »dass es nicht um ein irgendwie überphilos­ophisches Modernisie­rungsproje­kt für Deutschlan­d geht, sondern darum, eine Regierung zu bilden, die dafür sorgt, dass Deutschlan­d nicht den Anschluss verliert.« Anschluss woran? Lindners »Gigabit-Gesellscha­ft«, Kretschman­ns »Elektro-MobilSchwi­ndel« und Seehofers »Leitkultur mit ›atmender‹ Obergrenze«?

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Foto: privat

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