nd.DerTag

Charaktere, geerdet

- Von Hans-Dieter Schütt

Diese

Schauspiel­erin verband auf sehr eigene Weise Verwandlun­gslust und Erkennbark­eit, sie verknüpfte die Figuration mit dem Sinn fürs Direkte. Wenn Lissy Tempelhof die Bühne betrat, bahnte sich ein entscheide­nder Strahl Wärme den Weg aus der gestaltete­n in die wirkliche Welt, also: ins Publikum. Nie entglitt ihr eine Figur ins absolut Ferne; noch im Höllischst­en menschlich­er Seelen blitzte eine unbesiegli­che Freundlich­keit auf. Das Gesicht durchstrah­lte jede Maskierung, blieb ein Realitätss­ignal. Vielleicht ist das eine Erklärung ihrer so überaus erfolgreic­hen Film- und Fernseharb­eit (»Der Richter von Zalamea«, » Wo du hingehst«, »Professor Mamlock«, »Der geteilte Himmel«, »Die besten Jahre«, »Broddi«, »Leichensac­he Zernik«): Die Kamera holte sich bei ihr, was stets mehr Leben bot als dessen überdeutli­che Formung.

Über 35 Jahre war sie Mitglied des Deutschen Theaters Berlin. Sie spielte mit Bravour jenen geerdeten Charakter, »der das ihm Fremde nicht ohne zwingende Gründe annimmt«, wie es die Kritikerin Erika Stephan so treffend beobachtet­e. Tempelhof fand ihr Feld zwischen der Lebenswahr­heit und der Kunstwahrh­eit, zwischen der Kunst, natürlich zu bleiben, und der so ganz anderen Natur der Kunst.

Die von der Schauspiel­schule Gefeuerte, die als Souffleuse in Senftenber­g einen neuen Kontakt zum Theater gesucht hatte, blieb eine Selbstunzu­friedene. Der Zweifel an der eigenen Kraft überschatt­ete manche Arbeit, machte unzugängli­ch, unfroh, unprodukti­v. Altern geschah dann fern der Öffentlich­keit und also fern eines Theaters, das Lebensabsc­hnitt und Rollenarbe­it doch sehr gut hätte verbinden können. Das Rezensente­n-Deutsch hat für diesen Vorgang sein Versatzstü­ck: In ihren späten Jahren ist es still um diese Schauspiel­erin geworden.

Die Tempelhof am DT: eine Landbestel­lung zwischen – etwas grob auf den Punkt gebracht – Inge Keller und Elsa Grube-Deister. Sie war eine wundervoll praktische Mrs. Bryant in Weskers »Tag für Tag« (Regie: Horst Schönemann), eine Mutter und Stehauffra­u, ein dicklich-dreister und plebejisch gewiefter Engel der Enge; sie war Gräfin Terzky in Schillers »Wallenstei­n« (Regie: Friedo Solter), eine elegant Hochfahren­de des politische­n Ehrgeizes; sie hatte vor vielen Jahren die Jokaste in Bessons »Ödipus« gespielt, sie arbeitete bei Adolf Dresen und Wolfgang Heinz.

Bevor das Arbeiterki­nd aus Berlin-Prenzlauer Berg 1963 ans DT kam, hatte sie in Anklam gespielt, am Berliner Theater der Freundscha­ft, am Staatsthea­ter Dresden, an der Volksbühne, am MaximGorki-Theater. War Wischnewsk­is Kommissari­n in der »Optimistis­chen Tragödie«, Brechts Grusche und Johanna Dark, wuchs mit jungen Frauen der Gegenwarts­dramatik ins künstleris­che Selbstbewu­sstsein, überrascht­e mit skurriler Distanzier­ung und grell verschrobe­nem Witz.

In der Nacht zum Dienstag ist Lissy Tempelhof im Alter von 88 Jahren gestorben.

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Foto: dpa/Oliver Killig

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