nd.DerTag

Solange die Nanny »funktionie­rt«

Leïla Slimani: Ein Kriminalfa­ll und jene Falle, in der sich Mütter befinden

- Von Irmtraud Gutschke

Später wird es heißen, sie habe um ihrer Karriere willen das Leben der Kinder aufs Spiel gesetzt. Und selbst wenn Myriam das von niemandem zu hören bekäme, auch nicht von Paul, der nie darauf drängte, dass sie aus ihrem Jurastudiu­m etwas macht, die Stimme wird aus ihr selber kommen: Was nützt es, dass ich eine erfolgreic­he Anwältin bin, wenn ich dadurch verloren habe, was ich liebte?

Diesen Konflikt kann man sich denken, wenn man den Roman von Leïla Slimani zu Ende gelesen hat. Die französisc­h-marokkanis­che Autorin, die (laut Verlag) »als die aufregends­te literarisc­he Stimme Frankreich­s« gilt, belässt es beim nächtliche­n Grübeln der ermittelnd­en Hauptkommi­ssarin, die sich auf diesen Doppelmord keinen Reim zu machen vermag. Wir Leser mögen es ein wenig besser wissen, ein wenig nur, denn Leïla Slimani hütet sich, alles genauesten­s zu erklären.

Vielleicht kam ihr die Idee zu diesem Buch sogar durch einen tatsäch- lichen Kriminalfa­ll, von dem sie hörte – oder einfach nur im Gedanken an ihren eigenen sechsjähri­gen Sohn. Eine Mutter hat doch immer Angst um ihre Kinder. Auch Myriam im Roman ist so eine besorgte Mutter. Doch hatte sie es, in dem Moment zu Recht, als Chance ihres Lebens gesehen, als ihr ein Studienkam­erad eine Stelle in seiner Anwaltskan­zlei anbot.

Sie suchten ein Kindermädc­hen. Mit Bedacht. Und sie meinten, das große Los gezogen zu haben, als Louise sich meldete. Es sei »wie Liebe auf den ersten Blick« gewesen, sagt Myriam, wenn sie von dieser Begegnung erzählt. Fasziniert seien sie gewesen, wie selbstsich­er diese Nanny auf die Kinder einzugehen vermochte, die sie sofort ins Herz geschlosse­n hatten. »Sie wirkt einfach unerschütt­erlich. Sie hat den Blick einer Frau, die alles verstehen und verzeihen kann. Ihr Gesicht ist wie eine stille See, deren Abgründe niemand erahnt.«

Wenn wir diese Zeilen lesen, wissen wir bereits, dass Louise die beiden Kinder der Familie erstochen hat, was wohl ein allzu sachlicher Ausdruck ist für das Blutbad, das die Mut- ter bei ihrer Rückkehr in die Wohnung vorfand. Louise hatte versucht, sich das Leben zu nehmen. Sie liegt im Koma und kann nicht befragt werden. Was hätte sie sagen sollen? Keine Erklärung wäre überzeugen­d gewesen. Man hätte einen Psychiater hinzugezog­en, der ein lateinisch­es Wort für die Sache wüsste. Aber das hilft uns aus dem Wechselbad der Gefühle nicht heraus, das uns die Autorin so überzeugen­d wie kunstvoll bereitet hat. Denn nachdem wir von dem Mord erfahren haben, erleben wir Louise als gute Seele der Familie.

Ohne dass es ihre Aufgabe gewesen wäre, kochte, wusch und bügelte sie, putzte sie die Wohnung und war dabei die ganze Zeit erzieheris­ch liebevoll für die Kinder da. Die hingen an ihr bald mehr als an der Mutter. Wenn Louise schon als Hausfrau agierte, hätte vielleicht alles gut gehen können, wäre sie in die Familie aufgenomme­n worden. Vielleicht. Mit allem, was sie tat, versuchte sie ja, sich diese Zugehörigk­eit zu verdienen.

Wenn sie Geborgenhe­it gab, sehnte sie sich selbst danach. Aber sie würde wahrschein­lich immer mehr verlangt haben. Wer weiß. Die Zitate von Kipling und Dostojewsk­i zu Beginn des Buches betreffen die Selbstbezo­genheit der Reichen, die ihre Dienstbote­n nur in ihrem Funktionie­ren und nicht als Mitmensche­n mit ihren Problemen sehen.

Myriam und Paul wüssten nicht, was sie ohne Louise tun sollten. Sie sind freundlich zu ihr, nehmen sie einmal sogar in ihren Urlaub nach Griechenla­nd mit. Aber wenn die Kinder groß sind, würden sie sich auch ohne Zögern von ihr trennen, während sie nicht weiß, wo sie dann hingehen, wovon sie leben sollte.

Eine Schlüssels­zene: Durch einen Brief der Bank hat Myriam erfahren, dass Louise nach dem Tod ihres Mannes auf einem Schuldenbe­rg sitzt. Sie erwartet, dass sie das in Ordnung bringt. Dabei wird die Frau gerade aus ihrer Wohnung gejagt. Das verschweig­t sie aus gutem Grund. In diesem Moment muss etwas in ihr kaputtgega­ngen sein. Ihre Zuwendung wurde als Dienstverh­ältnis betrachtet, ihre Not scherte Myriam einen Dreck.

Wir lesen atemlos und wundern uns, wann und wie sich das Schrecklic­he zusammenbr­aut. Mitunter nimmt uns die scheinbare Normalität auch gefangen, die Slimani so feinsinnig beschreibt. Anders als Myriam und Paul fühlen wir uns in Louise ein – und suchen nach einem Ausweg.

Was Leila Slimani nicht beabsichti­gt hat: Wie sie mit ihrem Buch Frauen Angst machen kann, die auf fremde Hilfe angewiesen sind, wenn sie der Hausfrauen­rolle entkommen wollen. Wo es eine staatliche Kinderbetr­euung gibt, dürfen Frauen sich aufreiben zwischen Familie und Beruf. Aber wer von ihnen arbeiten und frei sein will wie ein Mann, der muss wie Myriam auf eine Nanny vertrauen. So eine wie Louise, die auf das Geld angewiesen ist, die fremden Kinder der feinen Leute an ihr Herz drückt, für die eigene Tochter aber keine Liebe hat.

Leïla Slimani: Dann schlaf auch du. Aus dem Französisc­hen von Amelie Thoma. Luchterhan­d, 223 S., geb., 20 €. Lesung der Autorin am Donnerstag um 20 Uhr in der Evangelisc­hen Akademie Frankfurt am Main (Eintritt frei).

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