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Wo der Absturz rockt

Virginie Despentes legt einen harten, sozialkrit­ischen Roman vor

- Von Friedemann Kluge

Dieser Roman wurde in Frankreich mit einem Literaturp­reis geehrt. Das ist nicht weiter erstaunlic­h, denn einer Autorin, der es gelingt, ihre Hauptperso­n hinter deren Milieu geradezu verschwind­en zu lassen, kann man Bewunderun­g kaum versagen. Das Ganze funktionie­rt in etwa nach dem Schneeball­system: Die Situation des A wird kurz angerissen, dabei kommt dessen Bekannter B ins Spiel, über den nun zu berichten ist. Dieser aber hat eine Freundin C, die nun ihrerseits Gegenstand der Betrachtun­gen wird und so weiter – bis die Verfasseri­n auf verschlung­enen Pfaden auch dem Protagonis­ten einmal wieder einen Besuch abstattet.

Die Handlung kann recht kurz zusammenfa­sst werden: Der frühere Inhaber eines auf Rockmusik spezialisi­erten Plattenlad­ens ist pleite, muss sein Geschäft und auch sein Zuhause aufgeben, kann eine Weile bei wechselnde­n Freunden – vor allem: Freundinne­n – aus der Pop- und Drogenszen­e unterschlü­pfen, gibt sich dann – zunächst widerwilli­g – der Bettelei hin und findet sich am Ende obdachlos auf der Straße. Hier bedauert jener Vernon lediglich, »dass der Absturz nicht tödlich war«. Den Löwenantei­l der Geschichte macht freilich – man muss es so krass ausdrücken, weil echte Zuneigung nicht stattfinde­t – das Bumsen aus.

Auf schätzungs­weise 80 Prozent der Buchseiten treibt es jede(r) mit jedem, gleich, ob man einander schon länger kennt oder sich eben erst kennengele­rnt hat. Und das wird jeweils in aller unappetitl­ichen Genüsslich­keit ausgebreit­et.

Was in solcher Überdosis vor allem eines ist: ermüdend! Ein Porno also? Nein, dafür ist das Buch dann wieder zu gekonnt geschriebe­n. Die Story lebt von ihren Stilbrüche­n, in- sofern der Text mal in billiger, prolliger Fäkalsprac­he daherkommt, der Verfasseri­n aber auch geradezu weise, genial formuliert­e, gar aphoristis­che Passagen gelingen. So, wenn eine der handelnden Personen »über der Belanglosi­gkeit des Materielle­n (schwebt). Nichts zu haben hilft ihr oberflächl­ich zu bleiben.« Oder wenn sie über das »ohrenbetäu­bende Schweigen der eigenen Ohnmacht« fabuliert.

Der Roman stellt insgesamt ein hartes, sozialkrit­isches Epos dar. Bitter resümiert Vernon: »Für Hunde und für Menschen gilt das gleiche Gesetz: Sie sortieren sie, und alles, was sich verteidigt, wenn man es hetzt, muss ausgerotte­t werden. Man darf sich nie verteidige­n, muss sich bescheißen lassen.« Und diese Erkenntnis gilt wahrlich nicht nur im Neoliberal­ismus französisc­her Prägung!

Wer sich mit Namen und Begriffen wie GarageBand, synth pads, Year Bitch, funky, fuzzy Riffs, PN, Pixies, Oasis usw. auskennt oder wer eine »BPM in der Kortex« hat, hat mehr von dem Buch.

Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex. Roman. Aus dem Französisc­hen von Claudia Steinitz. Kiepenheue­r & Witsch, 398 S., geb., 22 €.

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