Digitale Therapie
Ein internetbasiertes Programm ist erfolgreich gegen Essanfälle.
Online-Programme einschließlich Mail-Kontakt mit Therapeuten könnten mittelfristig bei manchen Essstörungen genauso wirksam sein wie die gängigen Psychotherapien.
Als die schlanke Personalleiterin in ihrem schwarzen, hervorragend sitzenden Kostüm nach einem kurzen »Auf Wiedersehen« die Tür hinter sich geschlossen hat, ist für Stefanie alles klar: Auch diesmal wird sie den Job als Chefsekretärin trotz bester Referenzen nicht bekommen. Wie die Frau sie schon beim Hereinkommen gemustert hat. So, als wollte sie fragen: Sie essen wohl sehr gern? Die Frage hat sie natürlich nicht gestellt. Aber Stefanie weiß ja, wie sie aussieht, oder meint wenigstens zu wissen, wie sie auf Menschen wirkt. Schon in der Schule gehörte sie nicht zu den Mädchen, die sich graziös auf dem Schwebebalken bewegen konnten. Was als Nächstes kommt, weiß sie auch: Sie wird an dem Café, das sie bereits auf dem Weg zum Bewerbungsgespräch wahrgenommen hat, weil es aus der offenen Eingangstür so gut duftete, nicht vorbeikommen ohne sich ein Stück Kuchen oder auch viel mehr als das zu gönnen. Seit dem vergangenen Nachmittag hat sie nichts mehr gegessen, um in den Hosenanzug, eines der wenigen »guten« Stücke, das ihr nach stetiger Gewichtszunahme geblieben ist, hineinzupassen.
Stefanie ist nur eine von vielen, die regelmäßig unter Heißhungerattacken leiden. Dass ihr Verhalten auch einen Namen hat, weiß sie schon seit dem ersten Therapieversuch. BingeEating heißt die Essstörung, von der weltweit rund zwei Prozent der Frauen und Männer betroffen sind. Von diesen sind etwa 30 Prozent übergewichtig, weitere 36 Prozent sind adipös (fettleibig). Anders als bei den übrigen Essstörungen ist bei den Essanfällen die Altersverteilung viel breiter gestreut, Frauen wie Männer sind nahezu gleichermaßen betroffen.
Das aus dem Englischen stammende Wort »to binge« steht in Verbindung mit Komasaufen oder Kampftrinken. In Zusammenhang mit Essen bedeutet es »schlingen« oder »ein Fressgelage veranstalten«, wobei nicht jeder, der seinem Heißhunger mal großzügig nachgibt, gleich essgestört ist. Erst wenn die Essanfälle in einem relativ kurzen Zeitraum auftreten – mindestens einmal pro Woche über eine Zeitspanne von drei Monaten –, spricht man von einer Binge-Eating-Störung. Ein wichtiges Alarmzeichen dabei ist der Kontrollverlust während des Essens. Menschen wie Stefanie können während solcher Essanfälle nicht aufhören zu essen, nicht mehr steuern, was und wie viel sie verschlingen. Anders als bei der Bulimia nervosa (Ess-BrechSucht) endet der Essanfall nicht mit selbst herbeigeführtem Erbrechen. Anfang und Ende sind bei den Anfällen der Binge-Eating-Störung weniger klar definiert.
Noch weiß die Wissenschaft wenig darüber, warum jemand diese Essstörung bekommt und nicht Anorexia nervosa (Magersucht) oder Bulimia nervosa. Viele übergewichtige Menschen berichten allerdings, dass sie mehr oder zu viel essen, wenn sie Kummer haben oder einsam sind.
Essen kann somit Erleichterung verschaffen oder eine Ersatzbefriedigung sein. Die Betroffenen können zeitweilig zwischen Hunger und anderen »Unlustgefühlen« nicht unterscheiden. Auch unter Stress können Essanfälle zur Spannungsreduktion führen. Für Jugendliche gilt ein negatives, feindselig-kontrollierendes oder vernachlässigendes Klima im Elternhaus oder Umfeld als zusätzlicher Risikofaktor für eine Binge-Eating-Störung.
Stefanie hatte gehofft, es gebe Medikamente, mit denen sie das Problem rasch los würde. Sie musste erfahren, dass ihr ein paar Monate harter Arbeit an sich selbst bevorstanden. Daran scheiterte ihr erster Therapieversuch. Meist wird die Störung mit kognitiver Verhaltenstherapie behandelt. »Dabei wird zunächst an einer Normalisierung des Essverhaltens gearbeitet«, erläutert die Psychologin Anja Hilbert von der Universität Leipzig. »Es geht darum, regelmäßig und gesund zu essen, so dass die Wahrscheinlichkeit für Essanfälle sinkt. Auch wird versucht, Auslöser von Essanfällen zu identifizieren.« Die Betroffenen lernten, mit diesen Auslösern anders umzugehen und so Essanfälle zu vermeiden. »Anschließend erfolgt häufig die Arbeit an dem negativen Köperbild, unter dem viele der Betroffenen leiden. Übergeordnetes Ziel ist, sich selbst zu akzeptieren.« Dauerhaft frei von Essanfällen würden die meisten nur, wenn sie mit Hilfe der Therapie Strategien für den Umgang mit Stress, für die Regulation der eigenen Emotionen und für die Lösung von Problemen mit Menschen in ihrem Umfeld entwickelten, so Hilbert.
Neuerdings gibt es Hoffnung auf ein niedrigschwelliges Angebot in Form eines verhaltenstherapeutischen Selbsthilfeprogramms. Hilbert hat daran gemeinsam mit der Psychiaterin Martina de Zwaan von der Medizinischen Hochschule Hannover gearbeitet. Inhaltlich durchlaufen die Patienten im Internet die gleichen Etappen wie die in der psychotherapeutischen Praxis. Beide Forscherinnen sehen darin eine Chance für alle, die keinen Zugang zu Psychotherapie oder wenig Zeit für regelmäßige therapeutische Sitzungen haben, womöglich lange Wartezeiten in Kauf nehmen müssten oder Angst davor hätten, einen Therapeuten aufzusuchen. Ein Vorteil besteht aus Hilberts Sicht auch darin, dass sich die Patienten ihrem Zeitplan gemäß in das Programm einloggen und die Module in ihrem eigenen Tempo bearbeiten können. »Ein Nachteil: Sie müssen sich immer wieder selbst motivieren, nicht aufzuhören – auch dann nicht, wenn die Fortschritte mal nicht so deutlich sind.«
In ihrer Studie wollten Hilbert und de Zwaan herausfinden, was ein verhaltenstherapeutisches Selbsthilfeprogramm via Internet im Vergleich zu der klassischen kognitiven Verhaltenstherapie mit einem Psychotherapeuten leisten kann. Deshalb gab es zwei Gruppen von Patienten. Am Anfang stand für alle Probanden ein persönliches Gespräch. Danach nahm die eine Gruppe über vier Monate wöchentliche Einzelsitzungen von im Durchschnitt 60 Minuten Dauer bei einem Therapeuten wahr. Im internetbasierten Selbsthilfeprogramm ergänzte ein einmaliger E- Mail-Kontakt pro Woche die zu lösenden Aufgaben. »Bei allen Teilnehmern verringerten sich die Essanfälle deutlich«, berichtet Hilbert. Auch depressive Verstimmungen, Ängstlichkeit und Sorge um das eigene Körpergewicht nahmen ab. Patienten in kognitiver Verhaltenstherapie machten mit Unterstützung ihres Therapeuten zunächst raschere und deutlichere Fortschritte. Nach 18 Monaten hatten sich die Effekte in beiden Gruppen jedoch angeglichen. Daraus lässt sich schließen, dass der Lerneffekt auch bei den Teilnehmern am Selbsthilfeprogramm nachhaltige Wirkung zeitigte.
Um herauszufinden, ob es eine persönlichkeitsabhängige Eignung für das Selbsthilfeprogramm gibt, bedarf es weiterer Forschung. »Einige Befunde deuten darauf hin, dass Patienten mit sehr geringem Selbstwertgefühl weniger gut auf strukturierte Selbsthilfe ansprechen«, so Hilbert. Auch zusätzliche psychische Erkrankungen, speziell Depressionen, Angst- und Persönlichkeitsstörungen könnten die Eignung infrage stellen. »Für viele übergewichtige und fettleibige Menschen, die unter Heißhungeranfällen leiden, besteht jedoch durch das nicht anonyme, internetbasierte und gleichzeitig geschützte Therapieprogramm neue Hoffnung.« Noch sind solche OnlineProgramme aber nicht im Gesundheitswesen verankert.
Essen kann Ersatzbefriedigung sein. Die Betroffenen unterscheiden nicht zwischen Hunger und anderen »Unlustgefühlen«.