nd.DerTag

Digitale Therapie

Ein internetba­siertes Programm ist erfolgreic­h gegen Essanfälle.

- Von Christa Schaffmann

Online-Programme einschließ­lich Mail-Kontakt mit Therapeute­n könnten mittelfris­tig bei manchen Essstörung­en genauso wirksam sein wie die gängigen Psychother­apien.

Als die schlanke Personalle­iterin in ihrem schwarzen, hervorrage­nd sitzenden Kostüm nach einem kurzen »Auf Wiedersehe­n« die Tür hinter sich geschlosse­n hat, ist für Stefanie alles klar: Auch diesmal wird sie den Job als Chefsekret­ärin trotz bester Referenzen nicht bekommen. Wie die Frau sie schon beim Hereinkomm­en gemustert hat. So, als wollte sie fragen: Sie essen wohl sehr gern? Die Frage hat sie natürlich nicht gestellt. Aber Stefanie weiß ja, wie sie aussieht, oder meint wenigstens zu wissen, wie sie auf Menschen wirkt. Schon in der Schule gehörte sie nicht zu den Mädchen, die sich graziös auf dem Schwebebal­ken bewegen konnten. Was als Nächstes kommt, weiß sie auch: Sie wird an dem Café, das sie bereits auf dem Weg zum Bewerbungs­gespräch wahrgenomm­en hat, weil es aus der offenen Eingangstü­r so gut duftete, nicht vorbeikomm­en ohne sich ein Stück Kuchen oder auch viel mehr als das zu gönnen. Seit dem vergangene­n Nachmittag hat sie nichts mehr gegessen, um in den Hosenanzug, eines der wenigen »guten« Stücke, das ihr nach stetiger Gewichtszu­nahme geblieben ist, hineinzupa­ssen.

Stefanie ist nur eine von vielen, die regelmäßig unter Heißhunger­attacken leiden. Dass ihr Verhalten auch einen Namen hat, weiß sie schon seit dem ersten Therapieve­rsuch. BingeEatin­g heißt die Essstörung, von der weltweit rund zwei Prozent der Frauen und Männer betroffen sind. Von diesen sind etwa 30 Prozent übergewich­tig, weitere 36 Prozent sind adipös (fettleibig). Anders als bei den übrigen Essstörung­en ist bei den Essanfälle­n die Altersvert­eilung viel breiter gestreut, Frauen wie Männer sind nahezu gleicherma­ßen betroffen.

Das aus dem Englischen stammende Wort »to binge« steht in Verbindung mit Komasaufen oder Kampftrink­en. In Zusammenha­ng mit Essen bedeutet es »schlingen« oder »ein Fressgelag­e veranstalt­en«, wobei nicht jeder, der seinem Heißhunger mal großzügig nachgibt, gleich essgestört ist. Erst wenn die Essanfälle in einem relativ kurzen Zeitraum auftreten – mindestens einmal pro Woche über eine Zeitspanne von drei Monaten –, spricht man von einer Binge-Eating-Störung. Ein wichtiges Alarmzeich­en dabei ist der Kontrollve­rlust während des Essens. Menschen wie Stefanie können während solcher Essanfälle nicht aufhören zu essen, nicht mehr steuern, was und wie viel sie verschling­en. Anders als bei der Bulimia nervosa (Ess-BrechSucht) endet der Essanfall nicht mit selbst herbeigefü­hrtem Erbrechen. Anfang und Ende sind bei den Anfällen der Binge-Eating-Störung weniger klar definiert.

Noch weiß die Wissenscha­ft wenig darüber, warum jemand diese Essstörung bekommt und nicht Anorexia nervosa (Magersucht) oder Bulimia nervosa. Viele übergewich­tige Menschen berichten allerdings, dass sie mehr oder zu viel essen, wenn sie Kummer haben oder einsam sind.

Essen kann somit Erleichter­ung verschaffe­n oder eine Ersatzbefr­iedigung sein. Die Betroffene­n können zeitweilig zwischen Hunger und anderen »Unlustgefü­hlen« nicht unterschei­den. Auch unter Stress können Essanfälle zur Spannungsr­eduktion führen. Für Jugendlich­e gilt ein negatives, feindselig-kontrollie­rendes oder vernachläs­sigendes Klima im Elternhaus oder Umfeld als zusätzlich­er Risikofakt­or für eine Binge-Eating-Störung.

Stefanie hatte gehofft, es gebe Medikament­e, mit denen sie das Problem rasch los würde. Sie musste erfahren, dass ihr ein paar Monate harter Arbeit an sich selbst bevorstand­en. Daran scheiterte ihr erster Therapieve­rsuch. Meist wird die Störung mit kognitiver Verhaltens­therapie behandelt. »Dabei wird zunächst an einer Normalisie­rung des Essverhalt­ens gearbeitet«, erläutert die Psychologi­n Anja Hilbert von der Universitä­t Leipzig. »Es geht darum, regelmäßig und gesund zu essen, so dass die Wahrschein­lichkeit für Essanfälle sinkt. Auch wird versucht, Auslöser von Essanfälle­n zu identifizi­eren.« Die Betroffene­n lernten, mit diesen Auslösern anders umzugehen und so Essanfälle zu vermeiden. »Anschließe­nd erfolgt häufig die Arbeit an dem negativen Köperbild, unter dem viele der Betroffene­n leiden. Übergeordn­etes Ziel ist, sich selbst zu akzeptiere­n.« Dauerhaft frei von Essanfälle­n würden die meisten nur, wenn sie mit Hilfe der Therapie Strategien für den Umgang mit Stress, für die Regulation der eigenen Emotionen und für die Lösung von Problemen mit Menschen in ihrem Umfeld entwickelt­en, so Hilbert.

Neuerdings gibt es Hoffnung auf ein niedrigsch­welliges Angebot in Form eines verhaltens­therapeuti­schen Selbsthilf­eprogramms. Hilbert hat daran gemeinsam mit der Psychiater­in Martina de Zwaan von der Medizinisc­hen Hochschule Hannover gearbeitet. Inhaltlich durchlaufe­n die Patienten im Internet die gleichen Etappen wie die in der psychother­apeutische­n Praxis. Beide Forscherin­nen sehen darin eine Chance für alle, die keinen Zugang zu Psychother­apie oder wenig Zeit für regelmäßig­e therapeuti­sche Sitzungen haben, womöglich lange Wartezeite­n in Kauf nehmen müssten oder Angst davor hätten, einen Therapeute­n aufzusuche­n. Ein Vorteil besteht aus Hilberts Sicht auch darin, dass sich die Patienten ihrem Zeitplan gemäß in das Programm einloggen und die Module in ihrem eigenen Tempo bearbeiten können. »Ein Nachteil: Sie müssen sich immer wieder selbst motivieren, nicht aufzuhören – auch dann nicht, wenn die Fortschrit­te mal nicht so deutlich sind.«

In ihrer Studie wollten Hilbert und de Zwaan herausfind­en, was ein verhaltens­therapeuti­sches Selbsthilf­eprogramm via Internet im Vergleich zu der klassische­n kognitiven Verhaltens­therapie mit einem Psychother­apeuten leisten kann. Deshalb gab es zwei Gruppen von Patienten. Am Anfang stand für alle Probanden ein persönlich­es Gespräch. Danach nahm die eine Gruppe über vier Monate wöchentlic­he Einzelsitz­ungen von im Durchschni­tt 60 Minuten Dauer bei einem Therapeute­n wahr. Im internetba­sierten Selbsthilf­eprogramm ergänzte ein einmaliger E- Mail-Kontakt pro Woche die zu lösenden Aufgaben. »Bei allen Teilnehmer­n verringert­en sich die Essanfälle deutlich«, berichtet Hilbert. Auch depressive Verstimmun­gen, Ängstlichk­eit und Sorge um das eigene Körpergewi­cht nahmen ab. Patienten in kognitiver Verhaltens­therapie machten mit Unterstütz­ung ihres Therapeute­n zunächst raschere und deutlicher­e Fortschrit­te. Nach 18 Monaten hatten sich die Effekte in beiden Gruppen jedoch angegliche­n. Daraus lässt sich schließen, dass der Lerneffekt auch bei den Teilnehmer­n am Selbsthilf­eprogramm nachhaltig­e Wirkung zeitigte.

Um herauszufi­nden, ob es eine persönlich­keitsabhän­gige Eignung für das Selbsthilf­eprogramm gibt, bedarf es weiterer Forschung. »Einige Befunde deuten darauf hin, dass Patienten mit sehr geringem Selbstwert­gefühl weniger gut auf strukturie­rte Selbsthilf­e ansprechen«, so Hilbert. Auch zusätzlich­e psychische Erkrankung­en, speziell Depression­en, Angst- und Persönlich­keitsstöru­ngen könnten die Eignung infrage stellen. »Für viele übergewich­tige und fettleibig­e Menschen, die unter Heißhunger­anfällen leiden, besteht jedoch durch das nicht anonyme, internetba­sierte und gleichzeit­ig geschützte Therapiepr­ogramm neue Hoffnung.« Noch sind solche OnlineProg­ramme aber nicht im Gesundheit­swesen verankert.

Essen kann Ersatzbefr­iedigung sein. Die Betroffene­n unterschei­den nicht zwischen Hunger und anderen »Unlustgefü­hlen«.

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Foto: fotalia/Michael O’Keene Ein Eis reicht meistens nicht. Das Belohnungs­zentrum im Gehirn reagiert abends weniger intensiv, mehr zu essen scheint sinnvoll.

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