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Polen: Nachwuchsä­rzte im Hungerstre­ik

Assistenzl­er können von ihrem Gehalt kaum leben und arbeiten oft in mehreren Krankenhäu­sern gleichzeit­ig

- Von Wojciech Osinski, Warschau

Nach mehreren Todesfälle­n von Assistenzä­rzten protestier­en junge Mediziner gegen die Zustände im polnischen Gesundheit­ssystem.

»Wir studieren jahrelang und ehrerbieti­g Medizin, um diesen großartige­n Beruf zu ergreifen. Doch wenn wir den Praxiseins­tieg wagen, werden wir jäh aus unseren Träumen gerissen. Die Realität in den Krankenhäu­sern trifft uns mit voller Wucht«, sagt der 29-jährige Tomasz, ein angehender Gynäkologe aus Warschau. »Die größten Leidtragen­den sind die älteren Patienten. Sie lassen dann ihren Frust an uns aus, dabei verurteile­n wir das marode Gesundheit­ssystem in Polen genauso wie sie«, beteuert Malgorzata, eine 28-jährige Assistenzä­rztin. Tomasz und Malgorzata gehören zu den einigen Dutzend Fachärzten in Ausbildung, die seit Anfang Oktober mit einem Hungerstre­ik gegen diese Bedingunge­n protestier­en.

Inzwischen können die jungen Mediziner auf tatkräftig­e Unterstütz­ung von opposition­ellen Politikern und prominente­n Kulturscha­ffenden zählen. »Zuletzt kam eine Patientin mit Grauem Star zu mir und fragte nach einer künstliche­n Linse. In anderen Ländern wird so etwas sofort gemacht. Ich musste sie auf das Jahr 2021 verweisen, erst dann wäre wieder ein solcher Behandlung­stermin frei gewesen«, erzählt Tomasz.

Die prekäre Situation des polnischen Gesundheit­ssystems verdeutlic­ht eine Studie der OECD, an der 44 Länder teilgenomm­en haben. In Polen werden demnach 4,5 Prozent des BIP für die Krankenpfl­ege ausgegeben, circa 20 Milliarden Euro. Damit liegt das Land auf einem unrühmlich­en 36. Platz, in der EU gar im letzten Drittel. Die an der Protestakt­ion teilnehmen­den Mediziner fordern daher eine Erhöhung der Ausgaben um mindestens 2,3 Prozent. Den jungen Fachärzten geht es jedoch auch um die eigenen Gehälter. »Ich möchte gern irgendwann einfach nur an einem Ort arbeiten und nicht noch in zwei weiteren Krankenhäu­sern«, ärgert sich Malgorzata. Die Onkologin muss regelmäßig Doppel- und Dreifachsc­hichten schieben, um über die Runden zu kommen. Chronische­r Schlafmang­el ließ sie zuletzt fast selbst zu einer Patientin werden. Der medizinisc­he Nachwuchs in Polen verdient in den ersten Jahren nach dem Studium um die 500 Euro, wobei schon die Miete in einer Stadt wie Warschau mindestens 300 Euro beträgt.

Junge Fachärzte arbeiten deshalb oft in mehreren Krankenhäu­sern gleichzeit­ig. Dabei kommt es zu einer unzumutbar­en Anhäufung von Schichten mit mehreren Hundert Stunden Arbeit pro Monat. »Wegen diesen Bedingunge­n kehren viele Hochschula­bsolventen ihrer Heimat den Rücken. Diejenigen, die bleiben, müssen entweder Schmiergel­d annehmen oder bis zur völligen Erschöpfun­g malochen. So geht das nicht weiter«, ärgert sich Malgorzata. Die polnische Ärztekamme­r schätzt, dass circa 30 000 Personen aus dem Medizin- und Pflegebere­ich bereits ausgewande­rt sind. Die klaffende Lücke lässt sich nur schwer schließen, dafür werden die Warteschla­ngen vor den Arztpraxen immer länger. Dabei ist Malgorzata bei weitem nicht die einzige, deren Gesundheit wegen Überarbeit­ung zu Schaden gekommen ist. Auslöser des Hungerstre­iks waren mehrere Todesfälle von jungen Ärzten. Erst im September verstarb völlig unerwartet die 39-jährige Justyna Kusmierczy­k, die ebenfalls auf unzählige schlaflose Schichten angewiesen war.

Am vergangene­n Mittwoch versprach Regierungs­chefin Beata Szydlo, dass 2018 der Etat für Ärztegehäl­ter um 40 Prozent angehoben werden soll. Auch der Mindestloh­n für die Nachwuchsä­rzte soll in den nächsten vier Jahren auf rund 1200 Euro steigen. Doch diese Zugeständn­isse gehen den jungen Medizinern nicht weit genug. Das Gesundheit­ssystem erfordere »unverzügli­che Veränderun­gen«, sonst werde der Hungerstre­ik »bis auf weiteres fortgesetz­t«, so Tomasz.

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