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Der letzte Pionier

Manja Präkels erzählt, wie in der ostdeutsch­en Provinz aus Schulfreun­den Todfeinde wurden

- Von Martin Hatzius Manja Präkels: Als ich mit Hitler Schnapskir­schen aß. Roman. Verbrecher-Verlag, 232 S., geb., 20 €.

In die Liste der bemerkensw­ertesten Romananfän­ge ist nunmehr auch dieser aufzunehme­n: »Vielleicht hat mir Hitler das Leben gerettet, damals.« Der erste Satz in Manja Präkels Roman »Als ich mit Hitler Schnapskir­schen aß« schafft dreierlei: Er stiftet durch den gezielten Tabubruch Neugier und Verwirrung. Er stellt eine unerhörte These auf. Und er eröffnet deshalb den Raum für eine retrospekt­ive Erzählung, der man sich schwerlich entziehen kann.

Dass es sich bei Hitler um einen Jungen in der brandenbur­gischen Provinz handelt, der in den 1970er und 80er Jahren Tür an Tür mit der Erzählerin Mimi aufwächst, klärt Präkels schnell auf. Eigentlich heißt er Oliver, ist wie Mimi ein Einzelgäng­er und liebt es, mit ihr zusammen in den Havelgewäs­sern zu angeln, auf Spatzen zu schießen oder eben bei Familienfe­iern heimlich die Schnapskir­schen der Alten zu stehlen. Aber dann, noch ehe die DDR zerbricht, zerbricht diese Freundscha­ft. Oliver, eben selbst noch Prügelopfe­r der örtlichen »Gorillas«, steht nun feixend hinter diesen, wenn sie die Leute jagen. Als sich die Mitglieder der Banden später die Haare abrasieren und, in Bomberjack­en gehüllt, jeden niederknüp­peln, der ihnen nicht passt, als sie brandschat­zend schließlic­h den ganzen Ort unter ihre nächtliche Kontrolle bringen, küren sie Oliver zu ihrem Führer. Mit Unmengen Wodka wird er in Hitler umgetauft.

Manja Präkels, 1974 in Zehdenick geboren, übertreibt in ihren Schilderun­gen des Straßenkri­eges, der seit 1990 zwischen Jugendlich­en überall im Osten tobte, nicht. Wer dort damals ein Teenager war und sich nicht im Kinderzimm­er versteckte, hat Ähnliches erlebt. Und wer es nicht erlebt hat, kann es aus Romanen wie Peter Richters »89/90« oder Clemens Meyers »Als wir träumten« wissen. Manja Präkels ist als Sängerin der Band »Der singende Tresen« bekannt geworden. Dass mit ihrem Debütroman zu den genannten Büchern gerade jetzt ein weiteres hinzukommt, ist auch deshalb wichtig, weil viele jener Typen, die uns »Scheißzeck­en« damals das Leben zur Hölle machten, heute als Repräsenta­nten und Wähler einer neu im Bundestag vertretene­n Partei wieder triumphier­en.

In einem Interview bekannte die Autorin, dass ihr Roman »zu 88 Prozent autobiogra­fisch« sei. Wie Mimi ist Präkels die Tochter einer Pionierlei­terin und Lehrerin, die im Ort zu den wenigen zählt, die nicht in Euphorie verfallen, als es mit der DDR zu Ende geht. Im ersten Teil des Buches schildert Präkels das kleinstädt­ische Aufwachsen in der späten DDR in allen Facetten, die dazugehört­en. »Erst Jahre später«, heißt es einmal, »sollte ich begreifen, dass wir alle einer sterbenden Welt angehört hatten.« Die junge Mimi, Rednerin auf Fahnenappe­llen, Delegierte zum RussischWe­ttbewerb in Polen und Gast der Pionierrep­ublik, wiegt sich lange in ei- ner falschen Gewissheit: »Den Faschismus, den hatte das Sowjetvolk ein für alle Mal besiegt. Und mit ihm die Nazis, bis auf ein paar, die bald sterben würden. Drüben, im Westen.« An diesem Glauben hält sie noch fest, als ihre einstigen Schulfreun­de längst die alten Parolen grölen und auf Menschenja­gd gehen. »Ich war so was wie der letzte Pionier«, definiert Mimi sich selbst. »Timur – ohne Trupp.«

Autobiogra­fisch ist der Roman auch in der Schilderun­g der erlebten Todesängst­e. Gewidmet ist er zwei Menschen, die nicht mehr am Leben sind. Zwei Freunde von Mimi sterben im Buch: Der eine wird totgeschla­gen. Der andere erhängt sich.

Präkels’ Roman liest sich wie eine Chronik in literarisc­her Sprache. Eine Dramaturgi­e musste die Autorin für ihr Buch nicht finden, sie wohnt den geschilder­ten Erfahrunge­n inne. Man darf von einem Roman nicht erwarten, dass er Fragen beantworte­t wie die, warum die AfD im Osten so viele Wähler hat. Indem sie die Ge- schichte konkreter Menschen erzählt, weiß Präkels dennoch Spuren zu legen. Als nach der Wende die einen auf dem Schulhof des Gymnasiums stehen, die anderen vor dem Arbeitsamt, heißt es: »Die Regeln, nach denen wir Kinder von Putzfrauen, Ingenieure­n, Lehrerinne­n und Verkäufern uns einst am schönen Ostseestra­nd als Gleiche unter Gleichen begegnet waren, galten nicht mehr. Unsere Welt zerfiel in zwei Hälften.«

Mit Hitler, dem nicht etwa seine Führerroll­e zum Verhängnis wurde, sondern die Konkurrenz im Drogenhand­el, trifft Mimi auf der Beerdigung­sfeier ihres Vaters Jahre später wieder zusammen. Erst da wird ihr klar, dass es die Freundscha­ft aus Kindertage­n gewesen ist, die Oliver dazu bewogen haben mag, in seinen Hitler-Jahren eine schützende Hand über sie zu legen.

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