»Früher waren wir die Bösen«
Einst wurde vor »Terroristenfreunden« in Wehringhausen gewarnt, nun werden Migranten zu Sündenböcken gemacht
In Wehringhausen gibt es Streit. Einige Bewohner klagen über eine Vermüllung des Hagener Viertels. Schuldige wurden schnell gefunden: Einwanderer aus Bulgarien und Rumänien. Im Buchladen Quadrux sitzt Kerstin Sack regelmäßig hinter der Theke. 1978 hat sie den Laden mitgegründet. Der Quadrux ist ein linker Buchladen wie aus dem Bilderbuch. In den Regalen gibt es Kategorien wie Ökologie, Antifaschismus und Globalisierung. Gegenüber der Kasse hängen Magazine und Zeitschriften: zum Beispiel »Arranca«, die Zeitschrift der Interventionistischen Linken, und »Frings«, dass Magazin des katholischen Hilfswerks Misereor. Der Buchladen ist fest im Stadtteil verankert. Wenn in dem Viertel etwas entschieden werden muss, sind die Leute, die den Buchladen betreiben, dabei.
Das sei nicht immer so gewesen, erzählt Kerstin Sack. In den 1970ern und 1980ern habe es geheißen, »in Wehringhausen wohnen die Terroristenfreunde«. Nun sitzen die Menschen, die den Buchladen betreiben, genauso wie Vertreter des Vereins Roter Stern Wehringhausen oder des Kulturzentrums Pelmke selbstverständlich in der Stadtteil-Konferenz, in Händlervereinigungen oder im Lenkungskreis des Stadtteilerneuerungsprogrammes. Die Kommunikation und Zusammenarbeit, auch mit Offiziellen der Stadt, habe sich in den Jahren »radikal gewandelt«. Für einen Stadtteil mit gerade einmal 15 000 Einwohnern gibt es hier viele Initiativen und Läden, die aus der alternativen Bewegung stammen. Das Kulturzentrum Pelmke etwa, oder der Bioladen, den es seit 1985 gibt.
Die Pelmke habe eine zentrale Rolle im Stadtteil, erzählt Kerstin Sack. Ihre Attac-Gruppe trifft sich dort, der Quadrux-Mitbetreiber Jürgen Breuer ist gleichzeitig Geschäftsführer des Kulturzentrums. Die Einrichtungen haben den Stadtteil Wehringhausen nachhaltig beeinflusst. »Früher waren wir die Bösen«, sagt Kerstin Sack. Auch in den 1980er Jahren habe es Zeitungsartikel gegeben, in denen gewarnt wurde, Wehringhausen drohe zum Slum zu werden.
Eine bestimmte Gruppe werde immer als Problem dargestellt, sagt die Frau aus dem Buchladen. Menschen mit türkischem Hintergrund seien es schon gewesen, ebenso Drogenabhängige.
Nun sind es Einwanderer aus Rumänien und Bulgarien, die vielen als Problemgruppe gelten. Die Lokalzeitung fragte kürzlich, ob der Stadtteil »kippt«. Im Regionalfernsehen von Sat1 erschien ein Beitrag, der sich mit Müll und Ängsten von Anwohnern befasste. Auch hier wurden die Einwanderer als die Schuldigen genannt.
Knapp 1200 Menschen mit rumänischer oder bulgarischer Staatsangehörigkeit leben im Stadtteil. Vor fünf Jahren waren es gerade einmal 120. Einige der Einwanderer sind Roma. Sie kommen nach Wehringhausen, weil der Wohnraum günstig ist. Das war aber schon immer so. Der Stadtteil erstreckt sich über einen Hang nahe der Innenstadt. Steigungen mit einem Gefälle bis zu 15 Prozent kommen im Stadtteil vor. Oben auf dem Hügel finden sich auch Villen. Migranten gibt es hier kaum. Mittig erstreckt sich die Lange Straße quer über den Hang. Fast der gesamte Einzelhandel befindet sich in der Langen Straße.
Am unteren Ende des Hanges findet sich das Armutsquartier von Wehringhausen. Im Tal liegen die Häuser eingezwängt zwischen Bahntrassen und einer Bundesstraße. Eine neue Umgehungsstraße hat die Situation zwar etwas verbessert, idyllisch ist es hier trotzdem nicht. Einige Häuser sind verfallen, Ladenlokale und Wohnungen stehen teilweise leer. Ganz in der Nähe hat ein Arzt, der Methadon abgeben darf, seine Praxis. Viele Drogenabhängige stehen vor Kiosken oder an einer Unterführung und trinken Bier. Auf 1000 Einwohner kommen hier fast 300 Empfänger von Transferleistungen. Wehringhausen hat hier im Tal seinen Ursprung. Entlang des Flusses Ennepe und an der Bahnstrecke nach Wuppertal siedelten sich Industriebetriebe an. Jeder Umzug, ein Stück den Hang hoch in das obere Wehringhausen, bedeutete sozialen Aufstieg.
Ganz unten, am Bodelschwinghplatz, war auch die Initiative »Kunst vor Ort« schon präsent. Seitdem der Platz renoviert wird, beschränkt sich das Team in Wehringhausen auf den Wilhelmsplatz. Der Platz an der Langen Straße ist das Zentrum des Stadtteils. Der Markt ist hier, die Sparkasse hat hier ihre Filiale. Viele Zuwanderer leben in Häusern in der Nähe. Wenn Sara Klych zu dem Spielplatz am Rande des Platzes geht, dann ruft eine Kinderschar ihren Namen, stürmt auf sie zu. Mit »Kunst vor Ort« ist die junge Frau zweimal in der Woche auf dem Platz präsent. Dort wird dann gebastelt, gemalt und geredet. Die Initiative gibt es seit zwei Jahren. Damals haben sich ein paar kreative Menschen zusammengesetzt. Der Verein ist in verschiedenen Hagener Stadtteilen aktiv. Sein Konzept ist einfach und offenbar erfolgreich.
Dadurch, dass sie auf den Plätzen sind, erzählen Sara Klych und Elena Grell, müssten die Kinder keine »Schwellen« überwinden. Auch die Eltern könnten sehen, was passiert. Vertrauen zu schaffen, ist ein wichtiger Teil ihrer Arbeit. Viele Kids im Stadtteil hätten bei »Kunst vor Ort« ihre Kreativität entwickelt. »Am Anfang hat einer ein Strichmännchen gemalt, dann haben das alle gemacht«, erzählt Klych. Beim Drachenbauen seien ganz unterschiedliche Fluggeräte entstanden.
Mit den Kids den Stadtteil entdecken, zu zeigen, dass oben auf dem Berg ein Wald ist – auch das gehört zu den Angeboten von »Kunst vor Ort«.
Dabei geht es um mehr als ein bisschen malen und spazieren gehen. Sara Klych erzählt, wie viel die Kinder gelernt haben. Viele benähmen sich »weniger wie Straße« und würden respektvoller miteinander umgehen. Klych und Grell erzählen aber auch von den weniger erfreulichen Erlebnissen ihrer Arbeit mit den Kindern, die überwiegend aus Südosteuropa stammen. Oft hätten sie erlebt, dass die Kinder von deutschen Anwohnern angepöbelt wurden. Mit »Kunst vor Ort« wollen sie auch der Stimmungsmache etwas Positives entgegensetzen.
Gegen die Stimmungsmache ist auch das Aktionsbündnis Antiziganismus aktiv. Einer der Aktivisten ist Bastian Wessel. Im Gespräch, in einer WG nahe am Wilhelmsplatz, erzählt Wessel von einer Facebook-Gruppe »Ein Stadtteil kämpft – …Wir sagen NEIN!!«, in der fast 300 Menschen aktiv sind. Täglich werden Polizeimeldungen und Bilder von Müll gepostet. Ob die Fotos im Stadtteil gemacht wurden oder es bei den Polizeiberichten um Wehringhausen geht, scheint zweitrangig. So werden in dieser Gruppe immer wieder auch kommentarlos Artikel über und Bilder von Müll in anderen Städten gepostet.
Ein Fotograf, der am Rande von Wehringhausen wohnt, funktioniere als Scharnier zu lokalen und regionalen Medien und zur Politik. In dem Sat1-Beitrag werden mehrere Mitglieder dieser Gruppe interviewt. »Als Anwohner und nicht als organisierte Gruppe«, kritisiert Bastian Wessel. Der Fotograf wiederum sieht seine Arbeit als getan an. »Ich sagte euch am Wilhelmsplatz, das ihr euch nun ohne meine Hilfe wehren könnt«, schrieb er kürzlich in einem Beitrag in der rassistischen Facebook-Gruppe. Mehrfach werden in der Gruppe Abschiebungen gefordert, »nicht nur« von Südosteuropäern, wie es in einem Beitrag heißt.
Wessel und das Aktionsbündnis wollen sich gegen diese Stimmungsmache stellen, kritisieren aber auch institutionellen Rassismus. Das Hagener Jobcenter etwa verweigere Zuwanderern immer wieder Leistungen. Vor kurzem erstritt ein rumänischer Vater Beihilfen vor dem Sozialgericht. Die Richter verurteilten das Jobcenter auch zu einer Strafzahlung.
Immer wieder macht das Aktionsbündnis Antiziganismus auf rassistische und antiziganistische Stimmungsmache aufmerksam. Die Lage habe sich in letzter Zeit zugespitzt, erklärt Bastian Wessel. In Teilen von Wehringhausen, besonders im Tal, hat die AfD bei der Bundestagswahl bis zu 20 Prozent der Stimmen geholt. Auch für Kerstin Sack aus dem Buchladen Quadrux ist es ein neues Phänomen, dass sich Rassisten innerhalb des Stadtteils organisieren. Sie sagt, der Rassismus »tritt heute offener zu Tage«.
Probleme, die es zweifellos im Stadtteil gebe, würden aufgebauscht und einzelnen Gruppen zugeschrieben. Viele dächten nicht weit genug. Manches Haus, das jetzt als »Problemhaus« gelte, in dem Rumänen und Bulgaren wohnen, sei schon lange in einem miserablen Zustand. Kritik müsse an die Hausbesitzer gerichtet werden, nicht an Zuwanderer. Sack nennt auch ein anderes Beispiel. Die Stadt habe in den vergangenen Jahren immer mehr öffentliche Mülltonnen abgebaut. Zwar hat eine Initiative mittlerweile selbst Mülltonnen aufgestellt, aber etwa gegen Sperrmüll ist sie machtlos. Sperrmüll, der einfach so auf die Straßen gestellt wird, habe es in der Stadt aber auch schon immer gegeben. In Hagen kostet die Abholung von Sperrmüll 25 Euro, in vielen anderen Städten ist sie in den Müllgebühren enthalten.
Vom kleinen Paris, zu dem ein Leitbild den Stadtteil einmal entwickeln wollte, ist Wehringhausen weit entfernt. Bei der Stadtteilerneuerung denkt man zwar an ein Kreativquartier, aber der Goldberg, an dem der Stadtteil liegt, wird wohl nicht zum zweiten Montmartre. Aber das muss ja auch nicht sein. Kerstin Sack, die seit 40 Jahren in Wehringhausen lebt, sagt: »Wehringhausen ist der beste Stadtteil.« Und Sara Klych ist nach zwei Jahren wieder von Dortmund nach Wehringhausen gezogen ist. Sie sind zwei von vielen Menschen, die den Stadtteil mögen und etwas für ihn tun.