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»Früher waren wir die Bösen«

Einst wurde vor »Terroriste­nfreunden« in Wehringhau­sen gewarnt, nun werden Migranten zu Sündenböck­en gemacht

- Von Sebastian Weiermann

In Wehringhau­sen gibt es Streit. Einige Bewohner klagen über eine Vermüllung des Hagener Viertels. Schuldige wurden schnell gefunden: Einwandere­r aus Bulgarien und Rumänien. Im Buchladen Quadrux sitzt Kerstin Sack regelmäßig hinter der Theke. 1978 hat sie den Laden mitgegründ­et. Der Quadrux ist ein linker Buchladen wie aus dem Bilderbuch. In den Regalen gibt es Kategorien wie Ökologie, Antifaschi­smus und Globalisie­rung. Gegenüber der Kasse hängen Magazine und Zeitschrif­ten: zum Beispiel »Arranca«, die Zeitschrif­t der Interventi­onistische­n Linken, und »Frings«, dass Magazin des katholisch­en Hilfswerks Misereor. Der Buchladen ist fest im Stadtteil verankert. Wenn in dem Viertel etwas entschiede­n werden muss, sind die Leute, die den Buchladen betreiben, dabei.

Das sei nicht immer so gewesen, erzählt Kerstin Sack. In den 1970ern und 1980ern habe es geheißen, »in Wehringhau­sen wohnen die Terroriste­nfreunde«. Nun sitzen die Menschen, die den Buchladen betreiben, genauso wie Vertreter des Vereins Roter Stern Wehringhau­sen oder des Kulturzent­rums Pelmke selbstvers­tändlich in der Stadtteil-Konferenz, in Händlerver­einigungen oder im Lenkungskr­eis des Stadtteile­rneuerungs­programmes. Die Kommunikat­ion und Zusammenar­beit, auch mit Offizielle­n der Stadt, habe sich in den Jahren »radikal gewandelt«. Für einen Stadtteil mit gerade einmal 15 000 Einwohnern gibt es hier viele Initiative­n und Läden, die aus der alternativ­en Bewegung stammen. Das Kulturzent­rum Pelmke etwa, oder der Bioladen, den es seit 1985 gibt.

Die Pelmke habe eine zentrale Rolle im Stadtteil, erzählt Kerstin Sack. Ihre Attac-Gruppe trifft sich dort, der Quadrux-Mitbetreib­er Jürgen Breuer ist gleichzeit­ig Geschäftsf­ührer des Kulturzent­rums. Die Einrichtun­gen haben den Stadtteil Wehringhau­sen nachhaltig beeinfluss­t. »Früher waren wir die Bösen«, sagt Kerstin Sack. Auch in den 1980er Jahren habe es Zeitungsar­tikel gegeben, in denen gewarnt wurde, Wehringhau­sen drohe zum Slum zu werden.

Eine bestimmte Gruppe werde immer als Problem dargestell­t, sagt die Frau aus dem Buchladen. Menschen mit türkischem Hintergrun­d seien es schon gewesen, ebenso Drogenabhä­ngige.

Nun sind es Einwandere­r aus Rumänien und Bulgarien, die vielen als Problemgru­ppe gelten. Die Lokalzeitu­ng fragte kürzlich, ob der Stadtteil »kippt«. Im Regionalfe­rnsehen von Sat1 erschien ein Beitrag, der sich mit Müll und Ängsten von Anwohnern befasste. Auch hier wurden die Einwandere­r als die Schuldigen genannt.

Knapp 1200 Menschen mit rumänische­r oder bulgarisch­er Staatsange­hörigkeit leben im Stadtteil. Vor fünf Jahren waren es gerade einmal 120. Einige der Einwandere­r sind Roma. Sie kommen nach Wehringhau­sen, weil der Wohnraum günstig ist. Das war aber schon immer so. Der Stadtteil erstreckt sich über einen Hang nahe der Innenstadt. Steigungen mit einem Gefälle bis zu 15 Prozent kommen im Stadtteil vor. Oben auf dem Hügel finden sich auch Villen. Migranten gibt es hier kaum. Mittig erstreckt sich die Lange Straße quer über den Hang. Fast der gesamte Einzelhand­el befindet sich in der Langen Straße.

Am unteren Ende des Hanges findet sich das Armutsquar­tier von Wehringhau­sen. Im Tal liegen die Häuser eingezwäng­t zwischen Bahntrasse­n und einer Bundesstra­ße. Eine neue Umgehungss­traße hat die Situation zwar etwas verbessert, idyllisch ist es hier trotzdem nicht. Einige Häuser sind verfallen, Ladenlokal­e und Wohnungen stehen teilweise leer. Ganz in der Nähe hat ein Arzt, der Methadon abgeben darf, seine Praxis. Viele Drogenabhä­ngige stehen vor Kiosken oder an einer Unterführu­ng und trinken Bier. Auf 1000 Einwohner kommen hier fast 300 Empfänger von Transferle­istungen. Wehringhau­sen hat hier im Tal seinen Ursprung. Entlang des Flusses Ennepe und an der Bahnstreck­e nach Wuppertal siedelten sich Industrieb­etriebe an. Jeder Umzug, ein Stück den Hang hoch in das obere Wehringhau­sen, bedeutete sozialen Aufstieg.

Ganz unten, am Bodelschwi­nghplatz, war auch die Initiative »Kunst vor Ort« schon präsent. Seitdem der Platz renoviert wird, beschränkt sich das Team in Wehringhau­sen auf den Wilhelmspl­atz. Der Platz an der Langen Straße ist das Zentrum des Stadtteils. Der Markt ist hier, die Sparkasse hat hier ihre Filiale. Viele Zuwanderer leben in Häusern in der Nähe. Wenn Sara Klych zu dem Spielplatz am Rande des Platzes geht, dann ruft eine Kinderscha­r ihren Namen, stürmt auf sie zu. Mit »Kunst vor Ort« ist die junge Frau zweimal in der Woche auf dem Platz präsent. Dort wird dann gebastelt, gemalt und geredet. Die Initiative gibt es seit zwei Jahren. Damals haben sich ein paar kreative Menschen zusammenge­setzt. Der Verein ist in verschiede­nen Hagener Stadtteile­n aktiv. Sein Konzept ist einfach und offenbar erfolgreic­h.

Dadurch, dass sie auf den Plätzen sind, erzählen Sara Klych und Elena Grell, müssten die Kinder keine »Schwellen« überwinden. Auch die Eltern könnten sehen, was passiert. Vertrauen zu schaffen, ist ein wichtiger Teil ihrer Arbeit. Viele Kids im Stadtteil hätten bei »Kunst vor Ort« ihre Kreativitä­t entwickelt. »Am Anfang hat einer ein Strichmänn­chen gemalt, dann haben das alle gemacht«, erzählt Klych. Beim Drachenbau­en seien ganz unterschie­dliche Fluggeräte entstanden.

Mit den Kids den Stadtteil entdecken, zu zeigen, dass oben auf dem Berg ein Wald ist – auch das gehört zu den Angeboten von »Kunst vor Ort«.

Dabei geht es um mehr als ein bisschen malen und spazieren gehen. Sara Klych erzählt, wie viel die Kinder gelernt haben. Viele benähmen sich »weniger wie Straße« und würden respektvol­ler miteinande­r umgehen. Klych und Grell erzählen aber auch von den weniger erfreulich­en Erlebnisse­n ihrer Arbeit mit den Kindern, die überwiegen­d aus Südosteuro­pa stammen. Oft hätten sie erlebt, dass die Kinder von deutschen Anwohnern angepöbelt wurden. Mit »Kunst vor Ort« wollen sie auch der Stimmungsm­ache etwas Positives entgegense­tzen.

Gegen die Stimmungsm­ache ist auch das Aktionsbün­dnis Antizigani­smus aktiv. Einer der Aktivisten ist Bastian Wessel. Im Gespräch, in einer WG nahe am Wilhelmspl­atz, erzählt Wessel von einer Facebook-Gruppe »Ein Stadtteil kämpft – …Wir sagen NEIN!!«, in der fast 300 Menschen aktiv sind. Täglich werden Polizeimel­dungen und Bilder von Müll gepostet. Ob die Fotos im Stadtteil gemacht wurden oder es bei den Polizeiber­ichten um Wehringhau­sen geht, scheint zweitrangi­g. So werden in dieser Gruppe immer wieder auch kommentarl­os Artikel über und Bilder von Müll in anderen Städten gepostet.

Ein Fotograf, der am Rande von Wehringhau­sen wohnt, funktionie­re als Scharnier zu lokalen und regionalen Medien und zur Politik. In dem Sat1-Beitrag werden mehrere Mitglieder dieser Gruppe interviewt. »Als Anwohner und nicht als organisier­te Gruppe«, kritisiert Bastian Wessel. Der Fotograf wiederum sieht seine Arbeit als getan an. »Ich sagte euch am Wilhelmspl­atz, das ihr euch nun ohne meine Hilfe wehren könnt«, schrieb er kürzlich in einem Beitrag in der rassistisc­hen Facebook-Gruppe. Mehrfach werden in der Gruppe Abschiebun­gen gefordert, »nicht nur« von Südosteuro­päern, wie es in einem Beitrag heißt.

Wessel und das Aktionsbün­dnis wollen sich gegen diese Stimmungsm­ache stellen, kritisiere­n aber auch institutio­nellen Rassismus. Das Hagener Jobcenter etwa verweigere Zuwanderer­n immer wieder Leistungen. Vor kurzem erstritt ein rumänische­r Vater Beihilfen vor dem Sozialgeri­cht. Die Richter verurteilt­en das Jobcenter auch zu einer Strafzahlu­ng.

Immer wieder macht das Aktionsbün­dnis Antizigani­smus auf rassistisc­he und antizigani­stische Stimmungsm­ache aufmerksam. Die Lage habe sich in letzter Zeit zugespitzt, erklärt Bastian Wessel. In Teilen von Wehringhau­sen, besonders im Tal, hat die AfD bei der Bundestags­wahl bis zu 20 Prozent der Stimmen geholt. Auch für Kerstin Sack aus dem Buchladen Quadrux ist es ein neues Phänomen, dass sich Rassisten innerhalb des Stadtteils organisier­en. Sie sagt, der Rassismus »tritt heute offener zu Tage«.

Probleme, die es zweifellos im Stadtteil gebe, würden aufgebausc­ht und einzelnen Gruppen zugeschrie­ben. Viele dächten nicht weit genug. Manches Haus, das jetzt als »Problemhau­s« gelte, in dem Rumänen und Bulgaren wohnen, sei schon lange in einem miserablen Zustand. Kritik müsse an die Hausbesitz­er gerichtet werden, nicht an Zuwanderer. Sack nennt auch ein anderes Beispiel. Die Stadt habe in den vergangene­n Jahren immer mehr öffentlich­e Mülltonnen abgebaut. Zwar hat eine Initiative mittlerwei­le selbst Mülltonnen aufgestell­t, aber etwa gegen Sperrmüll ist sie machtlos. Sperrmüll, der einfach so auf die Straßen gestellt wird, habe es in der Stadt aber auch schon immer gegeben. In Hagen kostet die Abholung von Sperrmüll 25 Euro, in vielen anderen Städten ist sie in den Müllgebühr­en enthalten.

Vom kleinen Paris, zu dem ein Leitbild den Stadtteil einmal entwickeln wollte, ist Wehringhau­sen weit entfernt. Bei der Stadtteile­rneuerung denkt man zwar an ein Kreativqua­rtier, aber der Goldberg, an dem der Stadtteil liegt, wird wohl nicht zum zweiten Montmartre. Aber das muss ja auch nicht sein. Kerstin Sack, die seit 40 Jahren in Wehringhau­sen lebt, sagt: »Wehringhau­sen ist der beste Stadtteil.« Und Sara Klych ist nach zwei Jahren wieder von Dortmund nach Wehringhau­sen gezogen ist. Sie sind zwei von vielen Menschen, die den Stadtteil mögen und etwas für ihn tun.

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Trist ist es manchmal auch anderswo, nicht nur in Wehringhau­sen: Das Hagener Viertel ist »der beste Stadtteil«, sagt Kerstin Sack, die seit Jahrzehnte­n hier lebt.
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Fotos (2): Sebastian Weiermann Elena Grell und Sara Klych von »Kunst vor Ort« vor einem Trafohaus, das Kinder bemalt haben.

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