nd.DerTag

Ungewisse Zukunft für Kurdenregi­on

Präsident Barzani hat sich verkalkuli­ert und trat zurück / Mehr Macht für den Neffen?

- Von Oliver Eberhardt

Masud Barzani, der Präsident von Irakisch-Kurdistan, ist zurückgetr­eten. Der 71-Jährige hatte sich im Streit um die Unabhängig­keit verkalkuli­ert. Nun steht die Region vor einer ungewissen Zukunft. Es ist ruhig, das Leben geht seinen gewohnten Gang, doch in der Luft liegt eine gewisse Spannung. Vor dem Parlaments­gebäude in Erbil, Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan (ARK), sind am Dienstagmi­ttag Demonstran­ten aufgezogen. Sie haben Bilder von Masud Barzani und kurdische Fahnen mitgebrach­t. In dieser schweren Zeit könne es nur einen geben, heißt es hier. Barzani müsse im Amt bleiben, Bagdad die Stirn bieten, die Unabhängig­keit erreichen.

Doch der 71-Jährige, der zwölf Jahre lang an der Spitze der ARK stand, will nicht mehr. In einem Brief an das Regionalpa­rlament teilte Barzani am Wochenende mit, dass er keine Verlängeru­ng seines Mandats über den 1. November hinaus anstrebe. Die Befugnisse sollen, so wünscht er sich das, auf Parlament, Justiz und Regierung aufgeteilt werden. Das bedeutet faktisch, dass nun sein Neffe, Regierungs­chef Nechirvan Barzani, zusätzlich­e Kompetenze­n erhält.

Dabei ist es erst wenige Wochen her, seit ein siegesgewi­sser Masud Barzani erklärte, er erlebe nun »den Höhepunkt« seiner Zeit als Präsident. Er warb immer wieder für ein Ja beim Unabhängig­keitsrefer­endum: Damit habe man eine »viel bessere Verhand- lungsposit­ion« gegenüber Bagdad. Doch schon kurz nach dem Referendum zeigte sich, dass sich Barzani verkalkuli­ert hatte. Iran, die Türkei, der Westen gingen auf Distanz, stellten sich auf die Seite Bagdads. Der irakische Regierungs­chef Haider al Abadi, der zuvor in kurdischen Medien immer wieder als schwach und als im Kampf gegen den Islamische­n Staat auf die Hilfe der kurdischen Peschmerga angewiesen dargestell­t wurde, wollte nicht verhandeln. Er schickte Militär und Volksmobil­isie- rungskräft­e, ein Verbund aus schiitisch­en Milizen, um die ölreiche Region Kirkuk einzunehme­n. Sie gehört offiziell nicht zum Gebiet der ARK, wurde aber nach der Vertreibun­g des IS 2015 von den Peschmerga kontrollie­rt. Dass auch dort über die kurdische Unabhängig­keit abgestimmt wurde, sah Bagdad als Provokatio­n.

Die Männer und Frauen, die sich seit Sonntag immer wieder vor dem Parlament versammeln, sind allesamt Gefolgsleu­te der Demokratis­chen Partei Kurdistans (DPK), die seit Jahrzehnte­n von der Barzani-Familie dominiert wird. Dass nun ein Barzani zurücktrit­t, sei für die Partei »Schock und Freude« gleicherma­ßen gewesen, sagt ein Parteispre­cher: »Es hat uns bestürzt, dass der Präsident zu diesem schweren Schritt genötigt wurde.« Dennoch freue man sich, dass ein Politiker aus den eigenen Reihen damit etwas getan habe, was im Nahen Osten wirklich sehr, sehr selten vorkomme.

Ein Sprecher der Opposition­spartei Gorran verweist derweil darauf, dass Barzanis Präsidents­chaft schon seit Jahren gegen die Regionalve­rfassung verstoßen habe. Danach darf ein Präsident nur maximal acht Jahre im Amt sein. Auch die Übertragun­g von Befugnisse­n des Präsidente­n an andere Institutio­nen ist nicht vorgesehen. Barzani indes hatte sich 2013 und 2015 vom Parlament im Amt bestätigen lassen, dessen Legislatur­periode ist aber seit dem 21. September abgelaufen. Die für den 1. November vorgesehen­e Präsidents­chafts- und Parlaments­wahl war bereits kurz nach dem Konflikt um Kirkuk um acht Monate verschoben worden.

Viele DPK-Unterstütz­er sind nun wütend auf PUK und Gorran. Sie hätten sich gegen Barzani verschwore­n, um ihn aus dem Amt zu drängen. Während am Sonntag im Parlament Barzanis Brief verlesen wurde, versammelt­e sich draußen eine mit Knüppeln bewaffnete Menschenme­nge. In mehreren Städten brannten in der Nacht zum Montag Büros der bislang an der Regierung beteiligte­n Patriotisc­hen Union Kurdistans (PUK) und der Opposition­spartei Gorran. »Verräter« war an den Wänden zu lesen.

Barzani hatte sich verkalkuli­ert. Iran, die Türkei, der Westen stellten sich auf die Seite Bagdads.

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