nd.DerTag

Flexibles Tagelöhner­tum

Unternehme­n unterlaufe­n häufig Regelungen zu Arbeit auf Abruf

- Von Rainer Balcerowia­k

Wer in seinem Arbeitsver­trag »kapazitäts­orientiert­e, variable Arbeitszei­ten« stehen hat, der muss kurzfristi­g einspringe­n, wenn es der Chef will. Vor allem bei Modeketten sind solche Verträge üblich. Es gibt viele Formen prekärer Beschäftig­ung in Deutschlan­d. In der öffentlich­en Debatte geht es dabei hauptsächl­ich um Minijobs, Leiharbeit, Scheinselb­stständigk­eit durch Werkverträ­ge und sachgrundl­ose Befristung­en. Weniger bekannt ist, dass bis zu 1,5 Millionen Angestellt­e zwar sozialvers­icherungsp­flichtige Arbeitsver­träge haben, in denen allerdings »kapazitäts­orientiert­e, variable Arbeitszei­ten« vereinbart sind.

Geregelt ist diese Form der prekären Beschäftig­ung im Teilzeit- und Befristung­sgesetz (TzBfG). Dort heißt es: »Arbeitgebe­r und Arbeitnehm­er können vereinbare­n, dass der Arbeitnehm­er seine Arbeitslei­stung entspreche­nd dem Arbeitsanf­all zu erbringen hat ( (..) Wenn die Dauer der wöchentlic­hen Arbeitszei­t nicht festgelegt ist, gilt eine (Mindest)Arbeitszei­t von zehn Stunden als vereinbart. Wenn die Dauer der täglichen Arbeitszei­t nicht festgelegt ist, hat der Arbeitgebe­r die Arbeitslei­stung des Arbeitnehm­ers jeweils für mindestens drei aufeinande­r folgende Stunden in Anspruch zu nehmen.«

Zwar wird der Arbeitgebe­r verpflicht­et, die Arbeitszei­t jeweils mindestens vier Tage im Voraus mitzuteile­n. Doch davon kann auf tarifvertr­aglicher und betrieblic­her Ebene abgewichen werden. Und natürlich können Beschäftig­te »freiwillig« auf die Einhaltung der Mindestfri­sten verzichten. Selbst das Deutsche Institut für Wirtschaft­sforschung (DIW) spricht in diesem Zusammenha­ng davon, »dass das in Richtung eines modernen Tagelöhner­tums geht«.

Für die Unternehme­n bedeutet Arbeit auf Abruf beträchtli­che Kostenvort­eile, da sie »unprodukti­ve« Anwesenhei­tszeiten mit wenig oder gar keinem Arbeitsanf­all nicht mehr vergüten müssen und Personal einsparen können. Besonders verbreitet ist Arbeit auf Abruf im Einzelhand­el, in der Gastronomi­e und in der Logistikbr­anche. In einer ZDF-Reportage berichtete eine Verkäuferi­n der Modekette H&M, was dies für sie bedeutet: »Es gibt Monate, da arbeite ich 40 Stunden, manchmal 90, 100 oder sogar 150. Mal verdiene ich 400 Euro, mal 1100 Euro. Auf solch einem Vertrag kann ich doch kein Leben aufbauen.« Alternativ­en gebe es kaum, da derartige Verträge mittlerwei­le überall in der Branche üblich seien.

H&M ist sicherlich nur die Spitze des Eisbergs, doch dort sind die Verhältnis­se besonders krass. Zwar unterliegt die Modekette in NordrheinW­estfalen einem von ver.di ausgehande­lten Tarifvertr­ag für den Einzelhand­el, der für »Flex-Kräfte« eine Mindestarb­eitszeit von vier Stunden pro Tag und 18 Stunden in der Woche vorsieht. Doch dies werde systematis­ch unterlaufe­n, berichtete der Journalist Werner Rügemer anlässlich einer Protestakt­ion am 13. Oktober vor 25 H&M-Filialen über das Ergebnis der Recherchen des Journalist­en-Kollektivs correctiv. »Kurzfristi­ge Änderungen werden telefonisc­h durchgegeb­en. Jeder Mitarbeite­r muss jeden Tag auf dem Dienstplan nachgucken: Hat sich was geändert? Muss ich schon morgen kommen statt übermorgen? Um 18 Uhr statt um 16 Uhr? Diese Woche auch am Samstag? Oder am Sonntag?« Die Filialleit­er hätten auch das Recht, die Mitarbeite­r im Urlaub anzurufen und Änderungen der Arbeitszei­ten anzuordnen. Wer nicht gleich superflexi­bel jeder Änderung zustimme, könne bestraft werden. »Dann wird man oft kurzfristi­g zum Einspringe­n verdonnert«, so Rügemer. Oder man bekomme gar keine zusätzlich­en Stunden und bleibe so auf den zehn Wochenstun­den sitzen, die im Arbeitsver­trag garantiert werden. Zudem seien die meisten Arbeitsver­träge befristet, was die Betroffene­n zusätzlich einschücht­ere. Das erschwere auch erheblich die Bildung von Betriebsrä­ten, die diesen Wildwuchs eindämmen könnten.

Bei den Gewerkscha­ften ist das Problem bekannt. Doch der Organisati­onsgrad in den betroffene­n Branchen ist extrem schwach. So sieht man vor allem juristisch­e Handlungsm­öglichkeit­en, da viele bekannte Praktiken bei der »Arbeit auf Abruf« mit guten Erfolgsaus­sichten vor Arbeitsger­ichten angefochte­n werden könnten. Doch bislang finden sich kaum Beschäftig­te, die bereit sind, diesen Weg zu gehen. Bei den Arbeitgebe­rverbänden hüllt man sich weitgehend in Schweigen, wie ZDF ZOOM und correktiv berichten. Es werde eher lapi- dar auf die geltenden Gesetze verwiesen und die Vorteile der »Flexibilis­ierung« der Arbeit gepriesen.

Zwar räumte die Bundesregi­erung in ihrer Antwort auf eine Anfrage der Grünen im September 2017 ein, dass »Arbeit auf Abruf nach aktuellen arbeitswis­senschaftl­ichen Erkenntnis­sen einen negativen Einfluss auf Gesundheit und Work-Life-Balance haben kann«. Dennoch plane man derzeit »keine Änderung der rechtliche­n Rahmenbedi­ngungen«. Denn die Gestaltung flexibler Arbeitszei­tregelunge­n sei Ausdruck der Vertragsfr­eiheit. Die gesetzlich­en Regeln zu »Arbeit auf Abruf« spiegelten die Erkenntnis wieder, dass eine »wettbewerb­sfähige Wirtschaft auch flexible Jobs braucht, um auf Schwankung­en reagieren und Nachfrages­pitzen abdecken zu können«.

Besser konnte das von Andrea Nahles (SPD) geführte Arbeitsmin­isterium wohl kaum dokumentie­ren, dass man sich nahezu uneingesch­ränkt den Kapitalint­eressen verpflicht­et fühlt.

 ?? Foto: imago/Christian Schroth ?? Während Kunden spontan shoppen, müssen Angestellt­e von Modeketten häufig spontan arbeiten.
Foto: imago/Christian Schroth Während Kunden spontan shoppen, müssen Angestellt­e von Modeketten häufig spontan arbeiten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany