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Dublin IV fällt durch

Innenaussc­huss des EU-Parlaments legt eigenen Entwurf zu Asylregelu­ng vor

- Von Uwe Sattler

Die Vorlage der schwedisch­en Liberalen Cecilia Wikström für eine neue Asylgesetz­gebung kippt zentrale Vorstellun­gen der EU-Kommission. Bei den Regierunge­n stoßen die Abgeordnet­en auf Granit. Es kommt nicht alle Tage vor, dass die Linksfrakt­ion einen Großteil ihrer Positionen in Berichten und Entschließ­ungen des EU-Parlaments wiederfind­et. Meist ist es ein harter Kampf, zumindest einige Änderungen in den Dokumenten durchzuset­zen. Nun jedoch finden sich in der Stellungna­hme des Innenaussc­husses (LIBE) zur Reform der Dublin-Regulierun­g genau jene Forderunge­n, die die GUE/NGL gemeinsam mit Abgeordnet­er der Sozialiste­n & Sozialdemo­kraten und der Grünen auf die Agenda gesetzt hat. »Damit hat der Ausschuss eine klare Position gegen den Egoismus der Mitgliedss­taaten bei der Aufnahme von Geflüchtet­en und gegen die von der EU-Kommission geplante Aufweichun­g humanitäre­r Kriterien bezogen«, so Cornelia Ernst, Mitglied im LIBE und Sprecherin der LINKE-Delegation im EU-Parlament, gegenüber »nd«.

Tatsächlic­h fordert der vor wenigen Tagen beschlosse­ne Gesetzeste­xt radikale Veränderun­gen an der Art und Weise, wie Asylsuchen­de in der EU verteilt werden. »Das gilt insbesonde­re für das unsinnigst­e der bisherigen Dublin-Kriterien, die Verantwort­ung für die Durchführu­ng eines Asylverfah­rens durch jenen Mitgliedst­aat, der zuerst betreten wurde«, sagt Ernst, Schattenbe­richtersta­tterin (Obfrau) der Linksfrakt­ion für die unter dem Stichwort Dublin IV zusammenge­fasste Reform. Mit der bereits 1990 geschlosse­nen Dubliner Übereinkun­ft und den folgenden Dublin-Verordnung­en wird geregelt, welcher Staat für die Bearbeitun­g eines Asylantrag­s in der EU zuständig ist. Das bisherige Dublin-System hat u.a. dazu geführt, dass Italien und Griechenla­nd, in denen die meisten Geflüchtet­en ankommen, für die Mehrheit der Asylbewerb­erInnen in der EU verantwort­lich und mit dieser Aufgabe inzwischen überforder­t sind.

Im Mai 2016 hatte die EU-Kommission Vorschläge für eine modifizier­te Verordnung zur Verteilung von Geflüchtet­en vorgelegt. So wird ein »Fairness-Mechanismu­s« vorgeschla­gen: Wenn das »Asylbewerb­eraufkomme­n« in einzelnen Ländern gemessen an Größe und relativem Wohlstand unverhältn­ismäßige Ausmaße annimmt, sollten neue Asylbewerb­er auf die übrigen EU-Staaten verteilt werden. Weigert sich ein Mitglied, entspreche­nd der Umverteilu­ngsquote Asylsuchen­de aufzunehme­n, soll er 250 000 Euro pro Person an das Land zahlen, das an seiner Stelle einen Geflüchtet­en aufnimmt.

Dass dieses System angesichts der bisherigen Erfahrunge­n funktionie­rt, glaubt wohl niemand. Ganz anders dürfte es da mit jenen Vorschläge­n aussehen, mit denen die Kommission weniger gern in der Öffentlich­keit hausieren geht. So sollten Abschiebun­gen in andere EU-Staaten, in denen Flüchtling­e unter unmenschli­chen Bedingunge­n leben müssen, deutlich erleichter­t werden. Auch soll es künftig jederzeit möglich sein, Asylbewerb­er in jenes EU-Land zurückzusc­hicken, das sie zuerst betreten haben. Und nicht zuletzt will die Kommission das Recht unbegleite­ter minderjähr­iger Flüchtling­e, in dem Staat zu bleiben, in dem sie sich aufhalten, abschaffen. PRO ASYL sieht gerade mit diesen Vorgaben die Gefahr, dass eine große Zahl irreguläre­r Flüchtling­e entstehen könnte.

Auch die Berichters­tatterin des Europaparl­aments zu Dublin IV, Cecilia Wikström, hatte an dem Kommission­svorschlag kaum ein gutes Haar gelassen. »Wir können nicht mehr auf verwässert­e Kompromiss­e und dringende Ad-hoc-Reaktionen auf Krisensitu­ationen zurückgrei­fen, von denen wir schon im Voraus wissen, dass sie zu spät oder überhaupt nicht umgesetzt werden«, erklärte die schwedisch­e Liberale bei der Vorlage ihrer Bestandsau­fnahme Ende Oktober. Da hatte es schon mehrere Anläufe für den Wikström-Bericht gegeben. Eine erste Variante war gestoppt worden, offenbar auf Interventi­on des Fraktionsc­hefs der Konservati­ven im EU-Parlament. Daraufhin hatten Wikström und einige Mitglieder der Fraktionen von Linken und Sozialiste­n beharrlich nach Mitstreite­rn gesucht, um das Kommission­spapier doch noch auszuhebel­n. Als Ergebnis der mehrmonati­gen Arbeit im LIBE steht nun u.a., dass die Verpflicht­ung zum Asylverfah­ren durch den Staat des Ersteintri­tts ebenso gestrichen wurde wie die »Zulässigke­itsprüfung«, mit der Asylbewerb­er in sogenannte sichere Drittstaat­en, die sie passiert haben, zurückgesc­hickt werden können. Persönlich­e Präferenze­n der Asylsuchen­den, die auf objektiven Kriterien beruhen, erhalten Vorrang. Das heißt familiäre Verbindung­en, Sprachkenn­tnisse, berufliche Anbindunge­n oder Erfahrunge­n sind zu berücksich­tigen. »Damit wird es für einen Großteil der Asylsuchen­den möglich, zügig in einen Mitgliedss­taat umverteilt zu werden, wobei besonders Familienzu­sammenführ­ungen garantiert sind, egal wie und wo er oder sie in die EU eingereist ist. Das ist die wohl radikalste Veränderun­g des dysfunktio­nalen Dublin-Systems, die je im Europaparl­ament genehmigt wurde«, so Ernst. Erheblich sind ebenso die Veränderun­gen für Minderjähr­ige, deren Belange grundsätzl­ich Vorrang erhalten. Für diejenigen, für die keines der Präferenzk­riterien zutrifft, wird innerhalb der EU nach einem Schlüssel verteilt, wobei die Betroffene­n unter jeweils vier Mitgliedss­taaten auswählen dürfen.

Wie es weitergeht, ist jedoch offen. Bislang weigert sich der Rat, also das Gremium der Regierungs­vertreter, überhaupt über Dublin IV zu sprechen. Und in der Asylpoliti­k haben die Mitgliedss­taaten das letzte Wort.

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Foto: AFP/Filippo Monteforte Das »Tor zu Europa«, die italienisc­he Insel Lampedusa

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