Kein Asyl für türkische Flüchtlinge
Bundesamt: Antragsteller sind nicht konkret gefährdet / Jahrestag der Verhaftung von linken HDP-Chefs
Nur einer von vier Flüchtlingen aus der Türkei erhält in der Bundesrepublik einen Schutzstatus. Das BAMF liefert hierfür widersprüchliche Erklärungen. Drei von vier Flüchtlingen aus der Türkei erhalten derzeit in Deutschland keinen Schutz. Dies betrifft unter anderem oppositionelle Linke, Säkulare, Kurden sowie Anhänger des Predigers Fethullah Gülen. Nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bekamen in diesem Jahr nur 2112 von 9413 Asylbewerbern aus der Türkei einen Schutzstatus zugesprochen. Die Quote der anerkannten Bewerber sei aber von 8,2 Prozent im Jahr 2016 auf 24,7 Prozent in diesem Jahr gestiegen. Die TV-Sendung »Monitor« hatte am Donnerstag zuerst darüber berichtet.
Laut den Recherchen des Magazins werden viele Asylanträge mit einer fragwürdigen Begründung abgelehnt. So argumentiere das BAMF, dass Flüchtlinge nicht konkret in der Türkei gefährdet seien. Verwiesen wird auf eine Einschätzung des Auswärtigen Amtes: Nach dieser könne davon ausgegangen werden, dass die Türkei »als Vertragsstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention« Folter und Misshandlungen unterbinde, »um den Beitritt zur EU nicht zu gefährden«.
Das BAMF teilte auf Anfrage von »Monitor« mit, dass diese Einschätzung seit März 2017 nicht mehr aktuell sei. Dem Magazin liegen nach eigener Aussage jedoch mehrere Bescheide des BAMF aus dem Zeitraum zwischen August und Oktober dieses Jahres mit ebenjener Begründung vor.
Auf Nachfrage des »nd« erklärte BAMF-Mitarbeiter Thomas Ritter zu dieser Diskrepanz: »Aktuell befindet sich das Texthandbuch Türkei in der erneuten Überarbeitung. Das Bundesamt wird alle Passagen im Hinblick auf die aktuellen Ereignisse einer kritischen Würdigung unterziehen.« Sollten alte Begründungen aktuell verwendet worden sein, wolle man dies aufklären. Grundsätzlich gelte: »Die Herkunft aus einem be- Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stimmten Land beziehungsweise eine Fluchtursache führen nicht automatisch zu einem Schutzstatus.« Einige Asylanträge seien zudem vor dem Putschversuch vom Juli 2016 gestellt worden.
Nach übereinstimmenden Erkenntnissen verschiedener Menschenrechtsorganisationen wird in der Türkei Folter gegen Häftlinge angewandt. Human Rights Watch veröffentlichte im Oktober einen 43-seitigen Bericht, der in elf Fällen schwere Menschenrechtsverletzungen in Haft dokumentiert.
Nach Recherchen des »nd« vom Juli wurden auch die Asylanträge eines ehemaligen Kämpfers der syrisch-kurdischen Miliz YPG sowie eines bekannten oppositionellen Politikers der prokurdischen Linkspartei HDP abgelehnt. Beide Organisationen sind in der Türkei starker Repression ausgesetzt.
Vor genau einem Jahr wurden etwa die Vorsitzenden der HDP, Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş, verhaftet. Sie sitzen in Untersuchungshaft. Am 7. Dezember soll einer der Prozesse gegen Demirtaş beginnen, insgesamt laufen 32 Verfahren gegen ihn. Für Yüksekdağ fordert die Staatsanwaltschaft bis zu 30 Jahre Haft, für Demirtaş 140 Jahre. Der Vorwurf lautet in beiden Fällen »Terrorunterstützung«.
»Die Herkunft aus einem Land führt nicht automatisch zu einem Schutz.«
Das autoritäre türkische Regime geht gerichtlich gegen Akademiker vor, die sich für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage einsetzen und für die Unterzeichnung des Appells »Academics for peace« aus den Universitäten entlassen wurden. Auch diejenigen von ihnen, die nach Deutschland gegangen sind, werden eingeschüchtert; das Regime lässt sie nicht in Ruhe. Warum? Weil sowohl die Geflohenen wie auch die in der Türkei Gebliebenen versuchen, sich Gehör zu verschaffen, ihre akademische Tätigkeit fortzusetzen und zu kämpfen.
Die Tore deutscher Universitäten haben für fast 100 dieser angeklagten türkischen Wissenschaftler geöffnet. Sie haben sich als Verein organisiert, sind dabei aber nicht stehen geblieben, sondern haben eine eigene Online-Uni mit Namen »Off-University« gegründet. Am 7. Oktober in Berlin eröffneten Akademiker, die den Friedensappell unterzeichnet hatten, diese Online-Uni mit einer Videokonferenz. Das Angebot ist kostenlos.
Tuba İnal Çekiç, eine der GründerInnen der »Off-University«, fasst die Ziele so zusammen: »Manche von uns sind auf der Flucht, andere im eigenen Land gefangen. Was tun wir also? Wir besitzen Technologie, die es uns ermöglicht, Grenzen zu überwinden. So stehen Menschen in Kontakt miteinander, auch wenn sie physisch getrennt sind.«
Die Wahl des Gründungsdatums der »Off-University«, des 7. Oktobers, ist natürlich kein Zufall. Das neue Uni-Semester begann in der Türkei an diesem Tag. Wären die »Friedensakademiker« nicht entlassen worden, hätten sie an diesem Tag mit ihren Studenten das neue Semester eingeläutet.
Vergangene Woche besuchte ich in Hannover eine Veranstaltung zur »Pressefreiheit in der Türkei« zusammen mit Prof. Dr. Esra Arsan, die ihren Posten an der Istanbuler BilgiUniversität räumen musste und die beim Anblick der Zuhörer sagte: »Ich kann euch nicht sagen, wie sehr ich dieses Bild vermisse«.
Innerhalb eines Jahres wurden in der Türkei insgesamt 5195 Akademiker aus 115 Universitäten suspendiert. Einem Großteil davon wurden Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen. Sie haben sich ohne Prostest zurückgezogen und ihr Schicksal akzeptiert.
Aber: Linke, sozialistische, fortschrittliche und demokratisch orientierte Wissenschaftler haben statt zu schweigen eine neue Tradition begründet. Zunächst riefen sie »Solidaritätsakademien« außerhalb der Universitäten ins Leben. Die »OffUniversity« ist quasi eine Fortsetzung davon. Bis heute wurden insgesamt zwölf dieser »Solidaritätsakademien« in verschiedenen Städten von Istanbul bis Urfa aufgebaut. Bekannte fortschrittliche Lehrende unterrichten jetzt außerhalb der Hochschulen, in Gewerkschaftsräumen oder anderswo. Der Unterricht wird von Menschen jeden Alters besucht. Arbeiter, junge Menschen, Frauen oder Aktivisten demokratischer Nichtregierungsorganisationen, die es sich nicht leisten können, auf die Hochschule zu gehen, finden in den Klassenzimmern als Studierende Aufnahme. So haben sich die »Solidaritätsakademien« zu einer Art öffentlicher Universitäten entwickelt. Es gibt keine Hierarchien, keine Hausaufgaben oder Abschlussarbeiten.
Den Zumutungen, die ihnen das Regime auferlegt, zum Trotz zeigen die Mitstreiter dieser Akademien, dass die Opposition nicht hilflos sein muss; sie sind Gewissen und Aufklärung der Türkei. Und sie zeigen, dass viele Akademiker nicht die Absicht haben, ihre Pflichten gegenüber der Gesellschaft einfach aufzugeben, sondern ihr Wissen weiterhin auch mit denen teilen, die nicht zur Universität gehen können. Diese »andere Türkei« ist eine Quelle der Hoffnung für alle, die sich nach Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden sehnen. Und hier liegt der Grund für die Drohungen und Maßnahmen des Regimes gegen die Wissenschaftler: Es ist Verzweiflung angesichts des Widerstandes, der sich an dieser Front formiert.