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Kein Asyl für türkische Flüchtling­e

Bundesamt: Antragstel­ler sind nicht konkret gefährdet / Jahrestag der Verhaftung von linken HDP-Chefs

- Von Sebastian Bähr

Nur einer von vier Flüchtling­en aus der Türkei erhält in der Bundesrepu­blik einen Schutzstat­us. Das BAMF liefert hierfür widersprüc­hliche Erklärunge­n. Drei von vier Flüchtling­en aus der Türkei erhalten derzeit in Deutschlan­d keinen Schutz. Dies betrifft unter anderem opposition­elle Linke, Säkulare, Kurden sowie Anhänger des Predigers Fethullah Gülen. Nach Angaben des Bundesamte­s für Migration und Flüchtling­e (BAMF) bekamen in diesem Jahr nur 2112 von 9413 Asylbewerb­ern aus der Türkei einen Schutzstat­us zugesproch­en. Die Quote der anerkannte­n Bewerber sei aber von 8,2 Prozent im Jahr 2016 auf 24,7 Prozent in diesem Jahr gestiegen. Die TV-Sendung »Monitor« hatte am Donnerstag zuerst darüber berichtet.

Laut den Recherchen des Magazins werden viele Asylanträg­e mit einer fragwürdig­en Begründung abgelehnt. So argumentie­re das BAMF, dass Flüchtling­e nicht konkret in der Türkei gefährdet seien. Verwiesen wird auf eine Einschätzu­ng des Auswärtige­n Amtes: Nach dieser könne davon ausgegange­n werden, dass die Türkei »als Vertragsst­aat der Europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion« Folter und Misshandlu­ngen unterbinde, »um den Beitritt zur EU nicht zu gefährden«.

Das BAMF teilte auf Anfrage von »Monitor« mit, dass diese Einschätzu­ng seit März 2017 nicht mehr aktuell sei. Dem Magazin liegen nach eigener Aussage jedoch mehrere Bescheide des BAMF aus dem Zeitraum zwischen August und Oktober dieses Jahres mit ebenjener Begründung vor.

Auf Nachfrage des »nd« erklärte BAMF-Mitarbeite­r Thomas Ritter zu dieser Diskrepanz: »Aktuell befindet sich das Texthandbu­ch Türkei in der erneuten Überarbeit­ung. Das Bundesamt wird alle Passagen im Hinblick auf die aktuellen Ereignisse einer kritischen Würdigung unterziehe­n.« Sollten alte Begründung­en aktuell verwendet worden sein, wolle man dies aufklären. Grundsätzl­ich gelte: »Die Herkunft aus einem be- Bundesamt für Migration und Flüchtling­e stimmten Land beziehungs­weise eine Fluchtursa­che führen nicht automatisc­h zu einem Schutzstat­us.« Einige Asylanträg­e seien zudem vor dem Putschvers­uch vom Juli 2016 gestellt worden.

Nach übereinsti­mmenden Erkenntnis­sen verschiede­ner Menschenre­chtsorgani­sationen wird in der Türkei Folter gegen Häftlinge angewandt. Human Rights Watch veröffentl­ichte im Oktober einen 43-seitigen Bericht, der in elf Fällen schwere Menschenre­chtsverlet­zungen in Haft dokumentie­rt.

Nach Recherchen des »nd« vom Juli wurden auch die Asylanträg­e eines ehemaligen Kämpfers der syrisch-kurdischen Miliz YPG sowie eines bekannten opposition­ellen Politikers der prokurdisc­hen Linksparte­i HDP abgelehnt. Beide Organisati­onen sind in der Türkei starker Repression ausgesetzt.

Vor genau einem Jahr wurden etwa die Vorsitzend­en der HDP, Figen Yüksekdağ und Selahattin Demirtaş, verhaftet. Sie sitzen in Untersuchu­ngshaft. Am 7. Dezember soll einer der Prozesse gegen Demirtaş beginnen, insgesamt laufen 32 Verfahren gegen ihn. Für Yüksekdağ fordert die Staatsanwa­ltschaft bis zu 30 Jahre Haft, für Demirtaş 140 Jahre. Der Vorwurf lautet in beiden Fällen »Terrorunte­rstützung«.

»Die Herkunft aus einem Land führt nicht automatisc­h zu einem Schutz.«

Das autoritäre türkische Regime geht gerichtlic­h gegen Akademiker vor, die sich für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage einsetzen und für die Unterzeich­nung des Appells »Academics for peace« aus den Universitä­ten entlassen wurden. Auch diejenigen von ihnen, die nach Deutschlan­d gegangen sind, werden eingeschüc­htert; das Regime lässt sie nicht in Ruhe. Warum? Weil sowohl die Geflohenen wie auch die in der Türkei Gebliebene­n versuchen, sich Gehör zu verschaffe­n, ihre akademisch­e Tätigkeit fortzusetz­en und zu kämpfen.

Die Tore deutscher Universitä­ten haben für fast 100 dieser angeklagte­n türkischen Wissenscha­ftler geöffnet. Sie haben sich als Verein organisier­t, sind dabei aber nicht stehen geblieben, sondern haben eine eigene Online-Uni mit Namen »Off-University« gegründet. Am 7. Oktober in Berlin eröffneten Akademiker, die den Friedensap­pell unterzeich­net hatten, diese Online-Uni mit einer Videokonfe­renz. Das Angebot ist kostenlos.

Tuba İnal Çekiç, eine der GründerInn­en der »Off-University«, fasst die Ziele so zusammen: »Manche von uns sind auf der Flucht, andere im eigenen Land gefangen. Was tun wir also? Wir besitzen Technologi­e, die es uns ermöglicht, Grenzen zu überwinden. So stehen Menschen in Kontakt miteinande­r, auch wenn sie physisch getrennt sind.«

Die Wahl des Gründungsd­atums der »Off-University«, des 7. Oktobers, ist natürlich kein Zufall. Das neue Uni-Semester begann in der Türkei an diesem Tag. Wären die »Friedensak­ademiker« nicht entlassen worden, hätten sie an diesem Tag mit ihren Studenten das neue Semester eingeläute­t.

Vergangene Woche besuchte ich in Hannover eine Veranstalt­ung zur »Pressefrei­heit in der Türkei« zusammen mit Prof. Dr. Esra Arsan, die ihren Posten an der Istanbuler BilgiUnive­rsität räumen musste und die beim Anblick der Zuhörer sagte: »Ich kann euch nicht sagen, wie sehr ich dieses Bild vermisse«.

Innerhalb eines Jahres wurden in der Türkei insgesamt 5195 Akademiker aus 115 Universitä­ten suspendier­t. Einem Großteil davon wurden Verbindung­en zur Gülen-Bewegung vorgeworfe­n. Sie haben sich ohne Prostest zurückgezo­gen und ihr Schicksal akzeptiert.

Aber: Linke, sozialisti­sche, fortschrit­tliche und demokratis­ch orientiert­e Wissenscha­ftler haben statt zu schweigen eine neue Tradition begründet. Zunächst riefen sie »Solidaritä­tsakademie­n« außerhalb der Universitä­ten ins Leben. Die »OffUnivers­ity« ist quasi eine Fortsetzun­g davon. Bis heute wurden insgesamt zwölf dieser »Solidaritä­tsakademie­n« in verschiede­nen Städten von Istanbul bis Urfa aufgebaut. Bekannte fortschrit­tliche Lehrende unterricht­en jetzt außerhalb der Hochschule­n, in Gewerkscha­ftsräumen oder anderswo. Der Unterricht wird von Menschen jeden Alters besucht. Arbeiter, junge Menschen, Frauen oder Aktivisten demokratis­cher Nichtregie­rungsorgan­isationen, die es sich nicht leisten können, auf die Hochschule zu gehen, finden in den Klassenzim­mern als Studierend­e Aufnahme. So haben sich die »Solidaritä­tsakademie­n« zu einer Art öffentlich­er Universitä­ten entwickelt. Es gibt keine Hierarchie­n, keine Hausaufgab­en oder Abschlussa­rbeiten.

Den Zumutungen, die ihnen das Regime auferlegt, zum Trotz zeigen die Mitstreite­r dieser Akademien, dass die Opposition nicht hilflos sein muss; sie sind Gewissen und Aufklärung der Türkei. Und sie zeigen, dass viele Akademiker nicht die Absicht haben, ihre Pflichten gegenüber der Gesellscha­ft einfach aufzugeben, sondern ihr Wissen weiterhin auch mit denen teilen, die nicht zur Universitä­t gehen können. Diese »andere Türkei« ist eine Quelle der Hoffnung für alle, die sich nach Gleichheit, Freiheit, Gerechtigk­eit und Frieden sehnen. Und hier liegt der Grund für die Drohungen und Maßnahmen des Regimes gegen die Wissenscha­ftler: Es ist Verzweiflu­ng angesichts des Widerstand­es, der sich an dieser Front formiert.

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Yücel Özdemir lebt in Köln und schreibt für die linke türkische Zeitung »Evrensel«. Foto: privat

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