nd.DerTag

Sieben Tage, sieben Nächte

- Wolfgang Hübner

Es ist Herbst vorm Balkon. Regen, Kälte, Wind. Ob das jemand verfilmt – wer weiß. Besonders amüsant wird es jedenfalls nicht, schon gar nicht so heiter und leicht wie der Film »Sommer vorm Balkon« mit dem wunderbar lässigen, rotzigen Andreas Schmidt in einer der Hauptrolle­n.

Lässig und rotzig ist auf dem Balkon im Herbst niemand. Jens Spahn wäre es gern, aber alles daran ist falsch. Die Frauen und Männer, die in diesen Tagen über die künftige Regierung verhandeln – genau genommen prüfen sie erst einmal, ob sie überhaupt verhandeln wollen –, kommen zwischendu­rch immer mal raus auf den Balkon der Parlamenta­rischen Gesellscha­ft in Berlin. Manche brauchen eine Zigaretten­pause, vor allem aber muss man sich dem Volke zeigen, damit es glaubt: Es tut sich was.

In exakt parteipoli­tisch quotierten Grüppchen betreten die Unterhändl­er den Balkon und lassen sich von den unten wartenden Fotografen ablichten. Es ist eine triste Veranstalt­ung. Bei Shakespear­e herrschte noch wahre Emotion auf dem Balkon; Julia gestand ihre Liebe zu Romeo, und der schmachtet­e sie gebührend an. Als Romeo könnte im Falle Jamaika Christian Lindner herhalten; immerhin führte er seine Partei mit einer Beauty-Kampagne zum Erfolg. Doch wen schmachtet er an? Allenfalls seinen neuen Schwarm Alexander Dobrindt. Aber Dobrindt als Julia – so war das bei Shakespear­e nicht vorgesehen. Weitergehe­nd möchte ich mich zum Thema Julia nicht äußern; es könnte schnell ins Unkorrekte führen.

Was haben sie uns mitzuteile­n in diesem Herbst auf dem Jamaika-Balkon? Eigentlich nichts. Sie täuschen uns. Denn es gibt ein Obenrum und ein Untenrum. Obenrum, über der Balustrade, lachen sie, scherzen, knuffen sich, zeigen theatralis­ch und richtungwe­isend ins Nichts. Untenrum aber, unsichtbar hinter der Balustrade, treten sie einander mit Stahlkappe­nschuhen ans Schienbein. Oder eine Dame zertrümmer­t dem Nebenmann mit ihren Absätzen lächelnd den Mittelfuß. Oben hui, unten pfui. Oben kumpeln, unten rumpeln.

Karl Liebknecht hat im November 1918 von einem Balkon des Berliner Stadtschlo­sses die sozialisti­sche Republik ausgerufen. Das wird im November 2017 nicht passieren. Als HansDietri­ch Genscher im September 1989 auf den Balkon der Prager Botschaft der Bundesrepu­blik trat, gingen seine Worte im Jubel unter: »Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteile­n ...« Wer wird die Jamaika-Verhandler bejubeln, wenn sie kommen, um uns etwas mitzuteile­n? Und wann wird das sein? Wie man hört, können sich die Beteiligte­n bei umstritten­en Themen wie Flüchtling­spolitik nicht einmal einigen, worüber sie genau sprechen wollen.

So ist das im Herbst vorm Balkon. Keine Aussicht auf heitere Leichtigke­it. Und Andreas Schmidt ist seit ein paar Wochen tot.

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