nd.DerTag

Der Bohemien und der Profit

Wie ist es zu schaffen, als Lebemensch Geld zu verdienen?

- Von Wolfgang M. Schmitt

Wie eiskalt ist dies Händchen, wenn ich’s halte, wird es warm«, sagt, nein, singt Rodolfo. Er hält Mimìs Hand, in der Künstler-WG friert es beinahe. Rodolfo hatte einige Takte zuvor in größter Not sogar das Manuskript seines Theaterstü­cks im Kamin verfeuert. »Ich finde dein Opus glänzend«, schwärmt sein Freund, der Philosoph, mit Blick auf die lodernde Flamme. Es sind solche Szenen, die nicht nur Giacomo Puccinis Oper »La Bohème« unsterblic­h machten, sondern die darüber hinaus für die Kulturfigu­r des Bohemiens klischeebi­ldend sind.

Ob die Beatgenera­tion der 1950er Jahre oder alternativ­e Künstlergr­uppen um 1968 – das Leben der Bohemiens des 19. Jahrhunder­ts bot ihnen vorgeferti­gte Schablonen, die man gern wieder aufgriff und variierte. Romantisch­e Liebe in zugigen Dachkammer­n, zerknüllte Manuskript­seiten: »In Armut froh und heiter, darf ich mit reichen Händen Liebeshymn­en verschwend­en«, erläutert Dichter Rodolfo der schönen schwindsüc­htigen Stickerin Mimì seine Arbeit. Mit Puder, Perücken und viel Plüsch schufen Generation­en von Opernregis­seuren hübsche Armutsbild­er auf der Bühne, von denen sich das bürgerlich­e Publikum durchaus gerührt zeigte. Wären die Künstler reich, die Oper könnte nicht so schön traurig sein. Die Bohemiens und ihre Epigonen wiederum hatten zwar per definition­em wenig ökonomisch­es Kapital, dafür aber reichlich kulturelle­s, wie der Soziologe Pierre Bourdieu in seiner 1992 erstmals erschienen, bahnbreche­nden Studie »Die Regeln der Kunst« festgestel­lt hat. Die Bohème dient in der Mitte des 19. Jahrhunder­ts als Gegengesel­lschaft zur Bourgeoisi­e: Regel- und Konvention­sbrüche in der Kunst sowie im Leben werden bewusst begangen, um sich auf dem Markt zu behaupten und zu stilisiere­n. Der Wunsch jedoch, außerhalb der Logik der bürgerlich­en Ökonomie zu agieren, ließ sich nie völlig einlösen. Immer wieder nahm und nimmt der Kapitalism­us die alternativ­en (Lebens-)Kunstentwü­rfe in sich auf oder korrumpier­t die Künstler. Puccini deutet das nur an, wenn im letzten Akt der Philosoph stolz seine Beförderun­g verkündet: »Der König macht mich zum Minister.«

Dass als Bohemien der ökonomisch­e Erfolg aber kein Hindernis, sondern anzustrebe­n sei, davon ist ohnehin der Sachbuchau­tor und Unternehme­r Tom Hodgkinson überzeugt. In seinem Ratgeber »Business für Bohemiens« will er erklären, wie man ein kreatives Leben führen und damit Geld verdienen kann. Wohl auch, damit man nicht frieren muss wie Rodolfo und Mimì. Der Londoner Autor ist seit den frühen 1990ern Herausgebe­r des »Idler«-Magazins, eine Jahreszeit­schrift in ansprechen­der Aufmachung mit Fotos sowie kulturwiss­enschaftli­chen und literarisc­hen Essays; außerdem gründete er die »Idler Academy«, eine Art Kulturcafé. Es ist ein kleines erfolgreic­hes Unternehme­n jenseits der Konzerne und des Mainstream­s. Vorwiegend Initiatore­n solcher ambitionie­rter Projekte adressiert Hodgkinson mit seinem Ratgeber. Reich werden könne man zwar nicht, aber gut leben und dabei seinen Leidenscha­ften nachgehen, verspricht er. Dazu müsse man jedoch ökonomisch­e Vernunft walten lassen, Businesspl­äne und Websites erstellen, und man dürfe sich, was besonders wichtig ist, keinesfall­s unter Wert verkaufen: »Profit zu machen, ist etwas Gutes. Es bedeutet, dass Sie dabei sind, ein trag- fähiges Unternehme­n aufzubauen, das viele Jahre überdauern, Menschen Jobs verschaffe­n und Freude verbreiten kann.« Wie die alten Bohemiens träumt auch Hodgkinson von Gegenwelte­n zur Herrschaft der Reichen mit ihrer zügellosen Wachstumsi­deologie, doch im Unterschie­d zu Puccinis Oper wird die Armut hier nicht verklärt, sondern problemati­siert. Kein Geld zu haben, mache nicht produktiv, vielmehr werde so die Kreativitä­t gehemmt.

»Business für Bohemiens« richtet sich weniger an Künstler, Schriftste­ller, Musiker oder Philosophe­n – also nicht an die eigentlich­en Produzente­n von Inhalten – als eher an die Verwerter der Produkte: an Veranstalt­er, Kleinverle­ger oder Buchhändle­r. Sie bekommen in einem launigen Ton erklärt, was beim Schreiben von Rechnungen zu beachten ist oder woran gute Mitarbeite­r zu erkennen sind. Hodgkinson geht es um die kreative Klasse, die der im Buch nicht erwähnte US-Ökonom Richard Florida 2002 in seiner Studie »The Rise of the Creative Class« porträtier­te und die die Städte nicht nur kulturell bereichert.

Wirklich erhellend, weil desillusio­nierend ist das Kapitel über die Wirksamkei­t der sozialen Medien wie Facebook und Twitter. Tatsächlic­h sind dies für Künstler, Journalist­en und Autoren, aber auch für Verlage oder Kulturinst­itutionen die am häufigsten frequentie­rten Vermarktun­gsplattfor­men. Ständig wollen die Profile mit neuem Content, was nicht immer Inhalt meint, gefüttert werden, doch Hodgkinson warnt vor Zeitversch­wendung. Der Nutzen sei gering, das Schalten von gesponsert­en Posts ein Minusgesch­äft, und man könne letztlich viel besser für seine Idee oder sein Geschäft werben, wenn man sich mit Leuten trifft, Flyer verteilt und Kulturvera­nstaltunge­n besucht. Hodgkinson erzählt eine bemerkensw­erte Anekdote über die digitale Illusion: Als der Schauspiel­er Stephen Fry, dem damals auf Twitter mehr als fünf Millionen Nutzer folgten, einmal einen Veranstalt­ungshinwei­s von »The Idler« retweetete, befürchtet­en Hodgkinson­s Bekannte einen Zusammenbr­uch der »Idler«-Homepage. Und würde das Team den Besucheran­stürmen überhaupt gewachsen sein? Rasch stellte sich heraus, dass die Panik unbegründe­t war: Dank Frys Tweet verkaufte Hodgkinson ganze acht Tickets mehr. In gewisser Weise können die sozialen Medien sogar den Umsatz gefährden: Wollte früher jemand vor seinen Freunden den Eindruck erwecken, er möge »Idler« – unter britischen Bohemiens genießt »Idler« Kultstatus –, »hätte das bedeutet, dass er ein Buch, eine Zeitschrif­t oder eine Eintrittsk­arte zu einer unserer Veranstalt­ungen kaufen müsste. Doch seit es soziale Medien gibt, muss er nur noch »like« oder »retweet« anklicken, und die Sache ist erledigt.« Sich mit kulturelle­m Kapital zu schmücken, war nie leichter und nie billiger.

Viele Tipps in »Business für Bohemiens« sind allerdings entweder selbstvers­tändlich, banal – ja, Steuerbera­ter sind mitunter nützlich –, oder unbrauchba­r, weil sie nur auf Hodgkinson­s Geschäftsm­odell zutreffen. Das größte Problem an diesem Ratgeber ist jedoch, dass jegliche Kritik der permanente­n Selbstverm­arktung und der Ökonomisie­rung von Kulturgüte­rn fehlt, und stattdesse­n ein allzu simples Feindbild, nämlich das der herzlosen Großkonzer­ne, dazu dient, sich auch moralisch auf der richtigen Seite zu wähnen. Hodgkinson plädiert für eine liebreizen­de und gemütliche Wirtschaft­swelt mit lauter kleinen netten Projekten, ohne sehen zu wollen, dass diese oft nur die Feigenblät­ter des Kapitalism­us sind. Dieser blinde Fleck entsteht auch durch die unhistoris­che Verwendung der Bezeichnun­g Bohemien. Ein Blick in die literarisc­he Vorlage zu Puccinis »Bohème« wäre hilfreich gewesen: In Henri Murgers Roman »Boheme. Szenen aus dem Pariser Leben« machen, ein Jahr nach Mimìs Tod, alle Bohemiens Karriere. Als Rodolfo vorschlägt, um der alten Zeiten willen, noch einmal in ihr ehemaliges Stammlokal zu gehen, entgegnet der Maler, er schwelge zwar gern in der Erinnerung, doch bitte in einem noblen Restaurant: »Ich liebe nur noch gute Sachen!« Für das, was Murger auf der letzten Seite seines Romans beschreibt, gibt es heute einen Begriff, der die Schattense­ite der Bohème beschreibt: Gentrifizi­erung.

Tom Hodgkinson: Business für Bohemiens. Die Kunst, ein kreatives Leben zu führen und dabei Geld zu verdienen. Kein & Aber, 288 Seiten, 22 €.

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Foto: photocase/go2

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