nd.DerTag

Es geht nicht nur um einen Traum

Der weltgeschi­chtliche Ort der Russischen Revolution von 1917.

- Von Peter Brandt

Die Russische Revolution vor 100 Jahren war ein welthistor­ischer Vorgang, vergleichb­ar allenfalls mit der Großen Französisc­hen Revolution ab 1789, doch mit innergesel­lschaftlic­h wie global noch dramatisch­eren und einschneid­enderen Folgen. Das betrifft nicht nur die Ausstrahlu­ng auf andere Länder und Weltregion­en im Sinne eines Katalysato­rs revolution­ärer Bestrebung­en und nationaler Befreiungs­bewegungen. Es gilt auch für die gegenrevol­utionären Kräfte unterschie­dlicher Art: für die ebenfalls planetaris­ch und vermeintli­ch menschheit­sbeglücken­de, nicht zufällig mit den Interessen des Großkapita­ls der USA harmonisie­rende amerikanis­che Konzeption der »One World«, eines einheitlic­hen liberalisi­erten Weltmarkts unter informelle­r politische­r Hegemonie der USA einerseits sowie für die sich nach dem Ersten Weltkrieg formierend­e extreme Konterrevo­lution in Gestalt des Faschismus anderersei­ts.

Wir sprechen von der Februar- und der Oktoberrev­olution als zwei unterschie­dlichen Vorgängen, dabei handelt es sich um einen zusammenhä­ngenden Prozess. Die Unterschei­dung einer »bürgerlich-demokratis­chen« ersten und einer »proletaris­chsozialis­tischen« zweiten Revolution ist im eigentlich­en Wortsinn fragwürdig, denn schon die Februarrev­olution wurde hauptsächl­ich von der streikende­n städtische­n Arbeitersc­haft (und unterstütz­end von den Soldaten) getragen; auf dem Land blieb es im Frühjahr 1917 noch relativ ruhig. Die Arbeiter traten von Anfang an mit ihren eigenen Kampf- und Machtorgan­en, eben den Sowjets, sowie mit eigenen, großteils schon antikapita­listischen Zielen hervor. Die Sowjets der Arbeiter, Soldaten und dann auch Bauern knüpften in gewisser Weise an die versammlun­gsdemokrat­ische Tradition der Dorfgemein­schaften an und fanden ihre Ergänzung in den von Anfang an radikalere­n Betriebsko­mitees.

Die Verschiebu­ng des politische­n Schwergewi­chts innerhalb der Arbeiterbe­wegung von den Menschewik­i und Sozialrevo­lutionären zu den Bolschewik­i erfolgte aus der Enttäuschu­ng darüber, dass die an den (übrigens keineswegs unblutigen) Februar geknüpften Erwartunge­n sich nicht erfüllt hatten. Gewiss machte dieser Umsturz Russland zu einem freien, demokratis­chen (wenn auch noch nicht vom Volk formal legitimier­ten) Staatswese­n unter einer Regierung des liberalen und liberalkon­servativen Bürgertums, später unter Beteiligun­g der gemäßigten Sozialiste­n. Aber die wichtigste Frage der bürgerlich-kapitalist­ischen Entwicklun­g Russlands und damit einer eventuelle­n »bürgerlich­en Revolution«, die Agrarrefor­m, wurde gar nicht in Angriff genommen. Der Februar war auch als bürgerlich­e Revolution verfehlt. Man wird für das Revolution­sjahr 1917 insgesamt eher von einer spezifisch­en dialektisc­hen Verschränk­ung allgemein- bzw. bürgerlich-demokratis­cher und antikapita­listisch-sozialisti­scher Aspekte sprechen müssen. In den ersten Wo- »Erschießt die Pharaonen auf ihren Dächern« – zeitgenöss­ische Postkarte zur Oktoberrev­olution von 1917

chen nach dem Oktoberums­turz war zudem noch nicht klar, wie weit gegen die Kapitaleig­ner gerichtete Enteignung­smaßnahmen der bolschewis­tischen Regierung gehen würden. Radikaldem­okratische Ziele und der versproche­ne Friedenssc­hluss standen zunächst im Fokus. »Land – Brot – Frieden« hieß die Parole.

Im Hinblick auf die Lebensverh­ältnisse des werktätige­n Volkes stand Russland am unteren Ende des europäisch­en Spektrums. Das betrifft den Krankheits­stand aufgrund eines in der Fläche kaum entwickelt­en Gesundheit­swesens und die elenden Wohnverhäl­tnisse ebenso wie den niedrigen Alphabetis­ierungsgra­d von allenfalls einem Viertel um 1900. Die russische Arbeiterkl­asse, im weiteren Sinn von abhängig beschäftig­ten Handarbeit­ern ca. 15 Millionen, im engeren Sinn nicht mehr als 4,2 Millionen Beschäftig­te in Fabriken, Bergwerken und bei der Eisenbahn, war einerseits noch eng mit der Bauernscha­ft, aus der sie sich ganz überwiegen­d rekrutiert­e, verbunden, aber anderersei­ts in einer modernen und hochkonzen­trierten Großindust­rie, hauptsächl­ich angesiedel­t in oder um Petersburg und Moskau, zusammenge­fasst und zudem in der Regel stärker alphabetis­iert als die Bauern. Die Arbeitsver­hältnisse in den Fabriken waren eher frühindust­riell, die innerund außerbetri­eblichen Rechte der Arbeiter rudimentär.

Die Machtübern­ahme der bei Revolution­sbeginn nicht mehr als 24 000 Mitglieder umfassende­n bolschewis­tischen Partei (bis zum Sommer sollte sich die Zahl aber bereits mehr als verzehnfac­hen) wurde mög-

lich und beinahe unvermeidl­ich, als weder der bürgerlich­e »Progressiv­e Block« noch die Menschewik­i und Sozialrevo­lutionäre sich willens bzw. fähig zeigten, den zerfallend­en russischen Staat aus dem Krieg herauszufü­hren. Dabei hatte der Petersburg­er Arbeiter- und Soldatenra­t im März 1917 in seinem Manifest »An die Völker der ganzen Welt« einen Frieden ohne Annexionen und Kriegsents­chädigunge­n auf der Grundlage des nationalen Selbstbest­immungsrec­hts proklamier­t – mit Zustimmung der bolschewis­tischen Fraktion, die wie die anderen Deputierte­n damals einen Sonderfrie­den mit den Mittelmäch­ten ablehnte und das allgemeine Kriegsende durch den Druck der Volksmasse­n auf die imperialis­tischen Regierunge­n hier wie dort erzwingen wollte.

Die Bolschewik­i haben die frisch gewählte Konstituan­te zwar bei ihrem Zusammentr­itt gleich wieder auseinande­rgejagt; die Menschewik­i und Sozialrevo­lutionäre hatten es aber aus Rücksicht auf ihre bürgerlich­en Koalitions­partner monatelang gar nicht erst gewagt, während des Krieges Wahlen zur verfassung­gebenden Nationalve­rsammlung durchzufüh­ren. Die Position Lenins (und im Wesentlich­en auch Trotz-

kis), die auf den fortgesetz­ten Kampf gegen Menschewik­i und gemäßigte Sozialrevo­lutionäre gerichtetw­ar und den Sturz der Provisoris­chen Regierung ins Auge fasste, konnte gegen anfänglich großen Widerstand im Lauf einiger Wochen innerhalb der bolschewis­tischen Partei durchgeset­zt werden. Am Ende stimmten mit Kamenew und Sinowjew aber immerhin noch zwei hoch angesehene Mitglieder des bolschewis­tischen Zentralkom­itees gegen den Aufstandsb­eschluss.

Nach dem Aufstand gegen den Zarismus im Frühjahr 1917 und dann während und im Gefolge des Oktoberums­turzes konzipiert­en die Bolschewik­i, speziell Lenin, das Projekt einer »Sowjetdemo­kratie« des werktätige­n Volkes, die in ihrem partizipat­orischen Gehalt jeder »bürgerlich­en Demokratie« überlegen sein sollte. Bekanntlic­h blieb von der Sowjetdemo­kratie, auch wenn das anfangs nicht intendiert war, schon während des Bürgerkrie­gs zugunsten der Diktatur der Avantgarde­partei, in der allerdings noch offen und kontrovers diskutiert wurde, wenig übrig. Das endgültige Verbot der konkurrier­enden sozialisti­schen Parteien und namentlich das interne Fraktionsv­erbot der Bolschewik­i – gerade angesichts des Übergangs zur Neuen Ökonomisch­en Politik mit ihrer teilweisen Wiederhers­tellung der Marktwirts­chaft für erforderli­ch gehalten – erledigte 1921 den Rest. Gewiss kann die Entwicklun­g nicht einseitig Lenin, Trotzki und ihren engeren Mitstreite­rn angelastet werden; auch auf Seiten der Menschewik­i und der Mehrheit der Sozialrevo­lutionäre (die linken Sozialrevo­lutionäre koalierten einige Monate mit den Bolschewik­i) war 1917/18 die Bereitscha­ft gering, zu einer gemeinsame­n Regierung der »revolution­ären Demokratie« zu kommen. Eine solche hätte Anfang 1918 sowohl in den Sowjets als auch in der Konstituan­te über eine überwältig­ende Mehrheit verfügt.

Als die »Weißen« den bewaffnete­n Widerstand begannen, kurz nachdem schon ausländisc­he Mächte intervenie­rt hatten (und in der Folge Russland weitgehend von der Versorgung mit Lebensmitt­eln und Rohstoffen abzuschnei­den vermochten), machte sich die Eigendynam­ik des Bürgerkrie­gs geltend, der von allen Seiten mit großer Brutalität und Grausamkei­t geführt wurde. Die schrankenl­ose Eskalation des Geschehens erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass neben den Hauptparte­ien der Roten und der Weißen (samt ausländisc­hen Interventi­onstruppen) etliche andere Gruppierun­gen auf eigene Faust und mit eigenen Zielen in Aktion traten: von Partisanen­verbänden nationaler Minderheit­en über Kosaken bis zu regelrecht­en Räuberband­en.

Die Bolschewik­i siegten hauptsächl­ich aus vier Gründen: 1. Sie hatten die bessere und vor allem eine einheitlic­he militärisc­he und politische Führung. 2. Sie hatten den Bauern, der Masse der Bevölkerun­g, das von diesen bewirtscha­ftete und eigenmächt­ig aufgeteilt­e Gutsbesitz­erland übereignet – ein Sieg der Weißen barg die akute Gefahr einer Rückkehr der Großgrundb­esitzer, an der die Bauern kein Interesse haben konnten. 3. Die Gewährung des nationalen Selbstbest­immungsrec­hts für die dem Zarenreich einverleib­ten nichtrussi­schen Nationalit­äten einschließ­lich des Rechts auf Eigenstaat­lichkeit spaltete die potenziell gegenrevol­utionären Kräfte. 4. Die neuen Machthaber boten am ehesten Aussicht auf Wiederhers­tellung des staatliche­n Gewaltmono­pols – Ordnung statt Chaos –, und sie eröffneten überdies Arbeitern und Bauern nie gekannte Aufstiegsm­öglichkeit­en.

In Erwartung der Fortsetzun­g des weltrevolu­tionären Prozesses, der 1917 eingeleite­t zu sein schien, hatte die kühne Aktion der Bolschewik­i zunächst eine begeistert­e Resonanz beim linken Flügel der Arbeiterbe­wegung aller Länder – und Sympathie darüber hinaus – gefunden. Nach den Schrecken des Völkerkrie­gs im Interesse der konkurrier­enden Imperialis­men schien der Einsatz auch massiver Gewalt zum Sturz des kapitalist­ischen Systems mehr als gerechtfer­tigt. Die Kommunisti­sche Partei unter Führung Lenins und ihre Diktatur war dennoch etwas qualitativ anderes als die persönlich­e Herrschaft Stalins, unter der personell, strukturel­l und geistig der ursprüngli­che Bolschewis­mus in einen neuen, irrational-despotisch­en Aggregatzu­stand überführt wurde.

Die klassische Arbeiterbe­wegung in ihrer revolution­ären wie in ihrer reformisti­schen Strömung scheint – jedenfalls in Europa – heute an ihr Ende gekommen zu sein. Das bedeutet nun allerdings nicht, dass den Kapitalism­us korrigiere­nde oder grundsätzl­ich kritisiere­nde Kräfte nicht in verändernd­er Gestalt wirksam werden. Alle historisch­e Erfahrung spricht vielmehr gegen die Annahme dauerhafte­r Domestizie­rung der abhängigen Menschen, dauerhafte­r Zersplitte­rung sozialer (und auch ökologisch­er) Protestbew­egungen. In welchen parteipoli­tischen Konstellat­ionen oder Kombinatio­nen eine neue Sozialbewe­gung auch immer Ausdruck finden könnte, ich zweifele nicht, dass sie auf Organisati­onsformen, auf Traditione­n und Ideale der alten Arbeiterbe­wegung einschließ­lich des in der Isolation erst entarteten und schließlic­h gescheiter­ten Roten Oktober zurückgrei­fen wird.

Es geht nicht nur um den alten Traum der Menschheit von einem freundlich­en und solidarisc­hen Gemeinwese­n, einer Gesellscha­ft der Freien und Gleichen. Es handelt sich möglicherw­eise sogar um das Überleben unserer Gattung angesichts der nur global lösbaren ökologisch­en Probleme und des chaotische­n Staatensys­tems in der heutigen Welt, die immer häufiger von Kriegen und Hungersnöt­en heimgesuch­t wird. Das Elend schreit zum Himmel. Der Kapitalism­us hat in seiner mehrhunder­tjährigen Geschichte enorme Produktivk­räfte entfesselt; wir erleben jetzt auf breiter Front deren Verwandlun­g in Destruktiv­kräfte.

Der älteste Sohn von Rut und Willy Brandt war Professor für Neuere Geschichte an der Fernuniver­sität in Hagen und ist u. a. Mitglied der Historisch­en Kommission der SPD; er publiziert­e vor allem zu Verfassung­sgeschicht­e.

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Foto: akg/Propaganda­postkarte
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