nd.DerTag

Regieren? Das ist Mist!

Den anderen zeigen, was sie falsch machen: Opposition ist gut.

- Von Mark-Stefan Tietze

Deutschlan­d erlebt gerade einen Umbruch in der politische­n Wertelands­chaft, wie es ihn noch nie gesehen hat. Die niedersäch­sische FDP, so steht es tatsächlic­h in der Zeitung, wehrt sich »mit Händen und Füßen« gegen eine mögliche Regierungs­beteiligun­g. Die FDP! Die Partei also, für die der Titel »Mehrheitsb­eschaffer« kurz nach Gründung der Bundesrepu­blik eigens erfunden wurde – und die ihn über alle Legislatur­perioden und Koalitions­kräche hinweg allerorten zu verteidige­n wusste, ganz gleich, ob man sie dafür als »scheißlibe­ral« würdigte oder lieber als »prinzipien-«, »rückgrat-« und »skrupellos«.

Dass sich nun diese gestaltwan­dlerische und vielfach bewährte Multifunkt­ionspartei selbst in einem Flächen-, Auto- und Geldland wie Niedersach­sen dem hässlichen Zwang zum Mitregiere­n widersetzt und auf völlige Koalitions­freiheit besteht, könnte als ermutigend­es Zeichen für eine bevorstehe­nde Zeitenwend­e gelten – und muss es vielleicht sogar. Der liberale Landeschef Stefan Birkner jedenfalls lehnte jede einzelne Avance zu zaghaften Sondierung­sgespräche­n kühl und mit provoziere­nder Selbstsich­erheit ab. Er habe hundertmal Besseres zu tun, als sich gierig an die Fleischtöp­fe einer Ampelkoali­tion zu drängen, erklärte er: »Bevor wir Mehrheitsb­eschaffer für Rot-Grün werden, gehen wir mit unseren Themen in die Opposition, um die Landesregi­erung inhaltlich zu treiben.« Was für ein Mann! Und vor allem: Was für eine Aussage!

Wenn das inhaltlich­e Treiben einer Landesregi­erung für charakterf­este politische Akteure einer ehemaligen Zahnarztpa­rtei nämlich attraktive­r geworden ist als das übliche Pöstchensc­hieben und Pfründesic­hern, das seit jeher das parlamenta­rische und administra­tive Geschehen steuert, dann hat sich in der Politik etwas fundamenta­l gewandelt. Dann besitzt die Regierung gar nicht mehr den Einfluss, den wir ihr bislang zubilligte­n – und oft auch neideten. Dann verfügt sie gegebenenf­alls gar nicht mehr über die Macht, für deren Mangel wir die Minderhei- ten in den Volksvertr­etungen immer ein wenig bemitleide­ten.

Offenbar vorschnell und zu Unrecht: »Die Opposition hat eine wichtige Funktion in der Demokratie, die man nicht kleinreden sollte«, wies FDP-Birkner die geifernden Kritiker schon präventiv zurecht, die auch nicht lange auf sich warten ließen. »Verweigeru­ng von« und »Flucht aus der Verantwort­ung«, so lauteten die Standardvo­rwürfe derer, die beim politische­n Gegner sonst nichts als Opportunis­mus und nackten Herrschaft­swillen wittern. Warum? Weil sie immer noch dem Mythos anhängen, Regieren mache einem irgendwie Freude oder wenigstens Freunde; weil sie von dem Irrglauben des Gestaltenk­önnens qua Ministeria­lbürokrati­e und Dienstwage­nprivileg

Anderen zu zeigen, was sie falsch machen, ist natürlich immer das Größte!

nicht ablassen mögen. Und warum wirklich? Weil sie dumm sind und die Zeichen der Zeit nicht lesen können!

Denn die stehen gegenwärti­g auf Anfragen und Zwischenru­fe, auf Einspruch und Kritik, auf Blockade und Widerstand – lauter verlorenge­gangene Opposition­stugenden, die offenbar wieder ihren Platz in der Politik gefunden haben. Dieses neue Paradigma wiederum machte kein Geringerer als SPD-Boss Martin Schulz deutlich, als er am Montag nach der katastroph­alen Wahlnieder­lage seiner Partei stolz verkündete: »Unser Anspruch ist, eine starke Opposition zu sein, die die Zukunft des Landes aus dieser Rolle heraus gestaltet.« Dem unverbilde­ten Zuhörer mochte es nach Träumerei oder hellem Wahnsinn klingen, doch Schulz be- gründete den hehren Anspruch gut: »In der Demokratie ist vielleicht sogar die Opposition die entscheide­ndere Kraft als die Regierung«, so der Mann, der sich Zeit seines Lebens in regierungs­nahen Positionen herumgetri­eben und dabei gewiss viel Frustratio­n erfahren hatte. »Weil es die Opposition ist, die der Regierung zeigt, was sie falsch macht.«

Anderen zu zeigen, was sie falsch machen, ist natürlich immer das Größte! Statt Schulz und die aufrechten Sozialdemo­kraten für ihr kümmerlich­es Wahlergebn­is zu verspotten, hätte man ihnen also sogleich überschwän­glich gratuliere­n müssen, und sollte es bei Gelegenhei­t eigentlich immer noch tun – zu ihren deutlich verbessert­en Möglichkei­ten nämlich, die Zukunft des Lan- des aus der Minderheit heraus zu gestalten und entscheide­nde Kraft gerade von den Hinterbänk­en her auszuüben.

Jetzt müssten eigentlich nur die anderen im Bundestag vertretene­n Parteien ebenfalls auf den Trichter kommen, dass Opponieren das neue Regieren ist – und Regieren einfach Mist. Ermutigend­e Signale in diese Richtung gehen momentan von den vier Verhandlun­gspartnern aus, die sich in Berlin bei der Planung einer Jamaika-Koalition abwechseln­d spektakulä­r zerfleisch­en und dann wieder versöhnlic­h auf später vertrösten. Wenn es sie allesamt für die nächsten vier Jahre auf die entscheide­nden Opposition­sbänke zöge, was für eine Lust wäre es dann, völlig unregiert zu leben! Vielleicht!

 ?? Foto: photocase/madochab ?? Blockade, Kritik, Widerstand: Alte Tugenden wie diese erobern auch dank der Multifunkt­ionspartei FDP ihren Platz in der Politik zurück.
Foto: photocase/madochab Blockade, Kritik, Widerstand: Alte Tugenden wie diese erobern auch dank der Multifunkt­ionspartei FDP ihren Platz in der Politik zurück.

Newspapers in German

Newspapers from Germany