Regieren? Das ist Mist!
Den anderen zeigen, was sie falsch machen: Opposition ist gut.
Deutschland erlebt gerade einen Umbruch in der politischen Wertelandschaft, wie es ihn noch nie gesehen hat. Die niedersächsische FDP, so steht es tatsächlich in der Zeitung, wehrt sich »mit Händen und Füßen« gegen eine mögliche Regierungsbeteiligung. Die FDP! Die Partei also, für die der Titel »Mehrheitsbeschaffer« kurz nach Gründung der Bundesrepublik eigens erfunden wurde – und die ihn über alle Legislaturperioden und Koalitionskräche hinweg allerorten zu verteidigen wusste, ganz gleich, ob man sie dafür als »scheißliberal« würdigte oder lieber als »prinzipien-«, »rückgrat-« und »skrupellos«.
Dass sich nun diese gestaltwandlerische und vielfach bewährte Multifunktionspartei selbst in einem Flächen-, Auto- und Geldland wie Niedersachsen dem hässlichen Zwang zum Mitregieren widersetzt und auf völlige Koalitionsfreiheit besteht, könnte als ermutigendes Zeichen für eine bevorstehende Zeitenwende gelten – und muss es vielleicht sogar. Der liberale Landeschef Stefan Birkner jedenfalls lehnte jede einzelne Avance zu zaghaften Sondierungsgesprächen kühl und mit provozierender Selbstsicherheit ab. Er habe hundertmal Besseres zu tun, als sich gierig an die Fleischtöpfe einer Ampelkoalition zu drängen, erklärte er: »Bevor wir Mehrheitsbeschaffer für Rot-Grün werden, gehen wir mit unseren Themen in die Opposition, um die Landesregierung inhaltlich zu treiben.« Was für ein Mann! Und vor allem: Was für eine Aussage!
Wenn das inhaltliche Treiben einer Landesregierung für charakterfeste politische Akteure einer ehemaligen Zahnarztpartei nämlich attraktiver geworden ist als das übliche Pöstchenschieben und Pfründesichern, das seit jeher das parlamentarische und administrative Geschehen steuert, dann hat sich in der Politik etwas fundamental gewandelt. Dann besitzt die Regierung gar nicht mehr den Einfluss, den wir ihr bislang zubilligten – und oft auch neideten. Dann verfügt sie gegebenenfalls gar nicht mehr über die Macht, für deren Mangel wir die Minderhei- ten in den Volksvertretungen immer ein wenig bemitleideten.
Offenbar vorschnell und zu Unrecht: »Die Opposition hat eine wichtige Funktion in der Demokratie, die man nicht kleinreden sollte«, wies FDP-Birkner die geifernden Kritiker schon präventiv zurecht, die auch nicht lange auf sich warten ließen. »Verweigerung von« und »Flucht aus der Verantwortung«, so lauteten die Standardvorwürfe derer, die beim politischen Gegner sonst nichts als Opportunismus und nackten Herrschaftswillen wittern. Warum? Weil sie immer noch dem Mythos anhängen, Regieren mache einem irgendwie Freude oder wenigstens Freunde; weil sie von dem Irrglauben des Gestaltenkönnens qua Ministerialbürokratie und Dienstwagenprivileg
Anderen zu zeigen, was sie falsch machen, ist natürlich immer das Größte!
nicht ablassen mögen. Und warum wirklich? Weil sie dumm sind und die Zeichen der Zeit nicht lesen können!
Denn die stehen gegenwärtig auf Anfragen und Zwischenrufe, auf Einspruch und Kritik, auf Blockade und Widerstand – lauter verlorengegangene Oppositionstugenden, die offenbar wieder ihren Platz in der Politik gefunden haben. Dieses neue Paradigma wiederum machte kein Geringerer als SPD-Boss Martin Schulz deutlich, als er am Montag nach der katastrophalen Wahlniederlage seiner Partei stolz verkündete: »Unser Anspruch ist, eine starke Opposition zu sein, die die Zukunft des Landes aus dieser Rolle heraus gestaltet.« Dem unverbildeten Zuhörer mochte es nach Träumerei oder hellem Wahnsinn klingen, doch Schulz be- gründete den hehren Anspruch gut: »In der Demokratie ist vielleicht sogar die Opposition die entscheidendere Kraft als die Regierung«, so der Mann, der sich Zeit seines Lebens in regierungsnahen Positionen herumgetrieben und dabei gewiss viel Frustration erfahren hatte. »Weil es die Opposition ist, die der Regierung zeigt, was sie falsch macht.«
Anderen zu zeigen, was sie falsch machen, ist natürlich immer das Größte! Statt Schulz und die aufrechten Sozialdemokraten für ihr kümmerliches Wahlergebnis zu verspotten, hätte man ihnen also sogleich überschwänglich gratulieren müssen, und sollte es bei Gelegenheit eigentlich immer noch tun – zu ihren deutlich verbesserten Möglichkeiten nämlich, die Zukunft des Lan- des aus der Minderheit heraus zu gestalten und entscheidende Kraft gerade von den Hinterbänken her auszuüben.
Jetzt müssten eigentlich nur die anderen im Bundestag vertretenen Parteien ebenfalls auf den Trichter kommen, dass Opponieren das neue Regieren ist – und Regieren einfach Mist. Ermutigende Signale in diese Richtung gehen momentan von den vier Verhandlungspartnern aus, die sich in Berlin bei der Planung einer Jamaika-Koalition abwechselnd spektakulär zerfleischen und dann wieder versöhnlich auf später vertrösten. Wenn es sie allesamt für die nächsten vier Jahre auf die entscheidenden Oppositionsbänke zöge, was für eine Lust wäre es dann, völlig unregiert zu leben! Vielleicht!