»Ändern lässt sich ohnehin nichts mehr«
Moskauer auf der Suche nach Überbleibseln des sowjetischen Sozialstaates und moderaten Preisen
Erinnerungen an Stalins Terror oder den Zweiten Weltkrieg sind bei Moskauern lebendiger als an die Revolution. Vor allem aber versuchen sie, den schwierigen Alltag zu bewältigen. Lenin blickt sein Gegenüber freundlich blinzelnd an. Sein Konterfei nimmt die gesamte Titelseite einer Zeitschrift ein, wie sie dieser Tage im ganzen Land erscheinen. Wer Wladimir Iljitsch partout keine Aufmerksamkeit schenken will, lässt ihn links liegen.
Wer nach der Abbildung des Revolutionärs Trotzki sucht, muss schon etwas genauer hinsehen. Der Zeitungsstand gegenüber dem Eingang zur Metro im Osten Moskaus ist neben der üblichen Klatschpresse und wenigen anspruchsvolleren Printmedien voller Sonderausgaben zum Hundertjährigen der Oktoberrevolution. Diese finden ihre Leser und Leserinnen, ohne zum Ladenhüter zu werden. Doch sind es eher die Älteren, die sich für historische Rückblicke erwärmen – und sei es nur aus nostalgischen Gründen.
»Ich selber habe eigentlich gar keine Meinung zu dem Ereignis«, sagt die Zeitungsverkäuferin. »Manche sagen, hätte die andere Seite gewonnen, wäre alles ganz anders verlaufen. Aber ändern lässt sich ohnehin nichts mehr.« Sechs Tage der Woche steht sie zwölf Stunden lang im Freien oh- ne Schutz vor der stechenden Sonne im Sommer, dem eisigen Wind im Winter und strömendem Regen wie jetzt im Herbst.
Statt Zeitungskiosken finden sich vielerorts nur noch Verkaufsstände unter freiem Himmel. Der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin sorgt sich mehr um das adrette Erscheinungsbild der öffentlich zugänglichen Plätze der Stadt als um das Wohlbefinden jener, die ihr Auskommen nur noch mit Mühe bestreiten können. Die Arbeitsbedingungen in der Branche sehen nicht einmal mehr bezahlten Urlaub vor. Eine Sommerauszeit auf eigene Kosten konnte sich die Verkäuferin von ihrem kargen Lohn dieses Jahr jedenfalls nicht leisten.
Kaufkraft und Lebensqualität schwinden seit der Wirtschaftskrise, gleichzeitig muss heutzutage für fast jeden Service in die Tasche gegriffen werden – beispielsweise Kleinreparaturen im Haushalt, selbst wenn die dafür zuständige Hausverwaltung sich darum kümmert. Früher waren die Ausgaben dafür in den Betriebskostenabrechnungen enthalten, heute will jeder legal oder schwarz auf die Hand sein Einkommen aufpeppen.
Somit begeben sich viele Menschen eifrig auf die Jagd nach kostenlosen Dienstleistungen, die durchaus noch im Angebot sind. Dabei ist es egal, ob es sich nun um juristische Beratung handelt oder die schwindenden Überbleibsel des sowjeti- schen Sozialstaatsmodells. Ein Anrecht auf staatliche Leistungen zu besitzen, prägt das Bewusstsein ganzer Generationen. Julia, Anfang 30, erwartete bei ihrem letzten Besuch bei der Gynäkologin, zu einer kostenpflichtigen Behandlung überredet zu werden. Stattdessen riet ihr die Ärztin, genau dies nicht zu tun: »Wenn du vom Staat etwas kostenlos bekommen kannst, dann, finde ich, bist du verpflichtet, dies auch in Anspruch zu nehmen.«
Wenn der Geldbeutel knapp ist, bleibt ohnehin kein anderer Ausweg. Über die Hälfte der russischen Bevölkerung besitzt eine Datscha und die Mehrheit nutzt das dazugehörige Grundstück für den Kartoffel- und Gemüseanbau. Alternativ gilt es, nach Lebensmitteln zu moderaten Preisen auf einem der wenigen noch verbliebenen Moskauer Märkte zu suchen, die sich nicht dem gnadenlosen Gewinndiktat der Metropole unterwerfen.
Der Preobraschenski Markt zieht Käufer selbst aus weit entfernten Stadtteilen an, denn hier sorgt der Direktor dafür, dass die Ware ohne Zwischenhändler auf den Tisch kommt. Auf dem 1932 gegründeten ehemaligen Kolchosmarkt finden sich bis heute Nachkommen regelrechter Kolchosdynastien, die Frischware unters Volk bringen.
Doch das Markterritorium könnte bald Bauland werden. Vor der Revolution gehörte es zum benachbarten Kloster und wäre wohl längst rück- übereignet worden, wären dort Angehörige des Moskauer Patriarchats ansässig und nicht abtrünnige Altgläubige. Eine erste Attacke der Baumafia haben engagierte Gegner der Schließung des Markts abgewehrt.
Nachdem die Stadt unlängst klammheimlich die Eintragung im Grundstücksregister ändern ließ und den Marktdirektor zum Stellvertreter degradierte, steht die nächste Runde an. Ansonsten steht zu befürchten, dass an diesem verkehrstechnisch optimal gelegenen Ort teurer kommerzieller Wohnraum entsteht.
Auch billige Supermärkte haben Hochkonjunktur. Im Foyer eines Ladens der Kette »Pjatjorotschka« verkauft Dschamol Nüsse und Trockenfrüchte. »Ich wünsche mir die Sowjetunion zurück«, sagt der Mittvierziger aus Tadschikistan. »Da musste sich niemand Sorgen über den kommenden Tag machen.« Nein, es gehe ihm nicht schlecht und er wolle auf keinen Fall in Verdacht geraten und als Kritiker der herrschenden Verhältnisse abgestempelt werden. Aber ihm fehlen Wärme und Geborgenheit, die er mit der Sowjetzeit verbindet. »Den Jahrestag der Revolution werde ich gemeinsam mit meinen Freunden feiern.« Dann verschwindet sein Lächeln für einen Moment. Gerne würde er den Tag im Kreis seiner Familie verbringen, die aber ist zu Hause, Tausende Kilometer von Moskau entfernt.
Michail lebt in Wolgograd. Für die politischen Führungen der vergan- genen 100 Jahre hat der Rentner kein gutes Wort übrig. Er wurde als Sohn einer zu Zwangsarbeit in den Norden deportierten Russlanddeutschen in einem Lager geboren. Überhaupt fällt auf, dass Familienerinnerungen an den staatlich organisierten Terror zu Stalins Zeiten oder auch an den Zweiten Weltkrieg viel stärkere emotionale Reaktionen hervorrufen, gleichzeitig aber auch nachdenklich stimmen.
Auf die Oktoberrevolution angesprochen, fällt Michail lediglich eine Episode aus dem Jahr 1971 ein. Da verbrachte er den 7. November gut gelaunt in angenehmer Gesellschaft, mit fettem Käse auf dem gedeckten Tisch. So gut geschmeckt hat es ihm selten und er würde vieles darum geben, diesen leckeren Käse heute irgendwo wieder kaufen zu können.
Hoch her geht es stattdessen andernorts. Im Moskauer Stadtteilpark Sjusino haben sich Anwohner zum Stelldichein mit frisch gewählten Kommunalabgeordneten eingefunden. Sie wollen mit ihnen über die zahlreichen Missstände im Wohnmanagement diskutieren. Ein älterer Mann empört sich besonders: »Warum habt ihr die Fabriken geschlossen?« Seinem harten Urteil entgeht niemand, auch nicht die Kommunistische Partei unter Gennadi Sjuganow. »Lenin, Stalin, Kommunismus – ich kann es nicht mehr hören. Die Chinesen haben auch Kommunismus, aber da kümmern sie sich wenigstens um das eigene Volk.«
»Lenin, Stalin, Kommunismus – ich kann es nicht mehr hören. Die Chinesen haben auch Kommunismus, aber da kümmern sie sich wenigstens um das eigene Volk.« Moskauer bei einem Bürgerforum