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EU will ihr Asylproble­m exportiere­n

Warnungen und parlamenta­rischer Widerstand gegen den Entwurf der EU-Kommission zu einer neuen Dublin-Verordnung wächst

- Von Uwe Kalbe

Während die Jamaika-Unterhändl­er noch über Migration und Einwanderu­ng reden, wird das Asylsystem auf EU-Ebene einer Generalinv­entur unterzogen, die vom bisherigen Recht nicht viel übrig lässt. Das Jahr 2015 gilt im öffentlich­en Sprachgebr­auch als Jahr der Flüchtling­skrise. Auch für die EU-Kommission, denn obwohl im Sommer jenes Jahres die Umsetzung der Dublin IIIVerordn­ungen in das nationale Recht der EU-Mitgliedss­taaten gerade erst abgeschlos­sen war, machte sie sich umgehend an eine erneute, grundlegen­de Reform des Asylrechts. Das Ergebnis liegt als neue Verordnung vor – Dublin IV. Die Zahl der Kritiker des Entwurfes wächst allerdings rasant. Vor Tagen erhielten diese mit einem Beschluss unerwartet­en Rückenwind, den der Innenaussc­huss des EUParlamen­ts traf. In seiner Stellungna­hme lässt der Ausschuss am Dublin-IV-Vorschlag der Kommission kein gutes Haar und stellt diesem eine Alternativ­e entgegen (»nd« berichtete).

Viel hängt vom Ausgang dieses Streits ab, für die Flüchtling­e wie für die EU-Länder selbst. Denn im Falle der Verwirklic­hung von Dublin IV nach Kommission­swunsch blüht ihnen eine Lawine an juristisch­en Verfahren, die von den Verfassern offenbar in Kauf genommen werden, wie Constanin Hruschka, Mitarbeite­r des »Max-Planck-Instituts für Sozialrech­t und Sozialpoli­tik«, auf einer Informatio­nsveransta­ltung des Mediendien­stes Integratio­n in Berlin am Montag ausmalte.

Nach dem Entwurf gilt die Aufmerksam­keit der Behörden künftig nicht mehr zuerst den individuel­len Fluchtgrün­den der Schutzsuch­enden, sondern der Frage, wer für ihr Verfahren zuständig ist. Die Zuständigk­eitsprüfun­g dient dem Ziel, das Verfahren in jenem Staat abzuwickel­n, wo erstmals EU-Gebiet betreten wurde und von dort möglichst weiter in die Peripherie der EU zu verlagern. Asylverfah­ren sollen mög- lichst schon in sogenannte­n sicheren Drittstaat­en stattfinde­n. Die in den Verfahren ermittelte Zuständigk­eit eines Landes wäre künftig zwingend, es läge nicht mehr im Ermessen eines Landes, diese zu übernehmen. Noch nach Jahren müsste im Erkennensf­all ein Geflüchtet­er zurückgesc­hickt werden. Integratio­n würde zur Glückssach­e. Auch die Entscheidu­ng Deutschlan­ds im Jahr 2015, hunderttau­sende Flüchtling­e nicht zurückzusc­hicken, sondern ihr Asylverfah­ren hier abzuwickel­n, wäre künftig ein Verstoß gegen EU-Recht. »Als Missbrauch des Asylrechts gilt dann bereits die Ankunft in einem Staat innerhalb der EU«, so Hruschka.

Das künftige europäisch­e Asylrecht, das nach dieser Art von Harmonisie­rung die individuel­le Prüfung von Fluchtursa­chen zu einer Nebensache macht, wird zugleich die Probleme der EU-Außengrenz­enländer verschärfe­n, wo die meisten Flüchtling­e ankommen. Eine Umverteilu­ng auf andere Staaten ist erst dann vorgesehen, wenn Länder mehr als 150 Prozent einer rein rechnerisc­hen Quote von Flüchtling­en aufgenomme­n haben. Dass die Umverteilu­ng dann besser funktionie­ren würde als derzeit, da von avisierten 160 000 Geflüchtet­en, auf die sich die EU-Länder vor zwei Jahren einigten, gerade mal 30 000 das Land wechselten, ist außerdem nicht anzunehmen.

Während also in Berlin derzeit die Sondierer einer Jamaika-Koalition die Spielräume ihrer politische­n Beweglichk­eit auch in Sachen Migration und Flüchtling­e ausloten, liegt in Form des Dublin-Entwurfs bereits die Idee eines EU-Asylrechts vor, die das deutsche Asylrecht zur Makulatur machen würde. Ohne die Möglichkei­t einer nationalen Gestaltung – denn anders als bisher handelt es sich nicht um Richtlinie­n, die in nationaler Gesetzgebu­ng der Mitgliedss­taaten umgesetzt werden. Dublin IV hat die Form von Verordnung­en, die ohne Einspruchm­öglichkeit der Parlamente überall gleicherma­ßen gelten würden. Eine Ausnahme macht allein die weiterhin gültige Richtlinie zu den Aufnahmebe­dingungen der Länder, die bekanntlic­h unterschie­dlich sind und in ihrer Hoheit verbleiben, da auch die EU-Kommission sie nicht harmonisie­ren kann. Allerdings ist vorgesehen, Schutzsuch­enden im Falle entdeckter Weiterwand­erung aus dem eigentlich zuständige­n Land zu sanktionie­ren; ihnen sollen dann soziale Leistungen gestrichen werden.

Die Berliner Rechtsanwä­ltin Berenice Böhlo sieht in diesem Fall für Deutschlan­d einen Konflikt über das vom Bundesverf­assungsger­icht festgestel­lte Bedarfsmin­imum heranreife­n. Die Anwältin, die in ihrer Praxis viele von der Dublin-Regelung betroffene Geflüchtet­e berät, widerspric­ht in der Informatio­nsveransta­ltung der These von der Flüchtling­skrise in Europa. Womit man es derzeit zu tun habe, sei vielmehr eine Krise des Flüchtling­sschutzes. Schon jetzt sind nach ihrer Schilderun­g die Dublin-Verfahren ein Moloch an juristisch­em Aufwand. Mit einem Ergebnis von gerade mal 2000 Rückführun­gen von Betroffene­n im Jahr.

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