Hat Lenin gezockt?
György Dalos über das Ende der Romanows und den Oktobercoup der Bolschewiki
Nachdem Sie sich seit Jahr und Tag mit der Geschichte des Kommunismus respektive dem Realsozialismus sowjetischer Prägung beschäftigten, haben Sie sich ausgerechnet im Jubiläumsjahr der russischen Revolution ins vorrevolutionäre Russland begeben, ein Buch über den letzten Romanow-Herrscher, Nikolai II., verfasst. Warum über einen Monarchen, über den die Geschichte hinweggegangen ist?
Ich bin von Russland oder der Sowjetunion gewissermaßen gefangen gehalten, seit ich an der Lomonossow-Universität in Moskau Geschichte studiert habe. Zu verschiedenen Zeiten hatte ich sehr unterschiedliche Einstellungen zum Land und System, von grenzenloser Euphorie bis zur herben Enttäuschung. Ich stamme aus einem kleinen osteuropäischen Land, dessen Schicksal von Russland und der Sowjetunion maßgeblich mitbestimmt worden ist. Mein Ehrgeiz ist es, die Vorgänge und Akteure hier wie dort zu beschreiben, zu verstehen und in Erinnerung zu halten. Diesmal interessierte mich, wie ein Mensch, ob Staatsmann, Parteiführer oder Monarch, in eine historische Rolle gelangt, die er sich nicht wünschte, und was mit einem Imperium passiert, das von einem Unglücksraben geführt wird.
Der Sturz des Zaren im Februar/März 1917 war eigentlich eine Palastrevolte ...
Er wurde von den Ultramonarchisten und Rechtsradikalen, aber auch liberalen Abgeordneten der Staatsduma, teilweise durch Mitglieder der Dynastie zur Abdankung gezwungen. Sie glaubten nicht mehr daran, dass der Krieg unter einem so schwachen Herrscher gewonnen werden konnte. Militärische Fiaskos nährten Verschwörungstheorien, vor allem gegen die »deutsche« Zarin, ihren Protegé Rasputin, aber auch gegen Nikolai. Ihnen wurde der Wunsch eines Separatfriedens mit Wilhelm II., dem Cousin des Zaren, nachgesagt – reine Erfindung. Für die Kriegsniederlagen waren weder der Zar noch die Zarin oder Rasputin verantwortlich. Russland war nicht auf eine große militärische Konfrontation vorbereitet. Mangelnde Kriegstechnik versuchte man mit Millionen von Menschenleben zu kompensieren. Das hat die Massen aufgebracht und spontan auf die Straße getrieben. Aber selbst die sozialistische Linke war von der Entwicklung überrascht. Und sogar Lenin meinte noch im Januar 1917 in Zürich, dass seine Generation die Revolution wohl nicht mehr erlebt.
Die Revolution verdankt sich einem schwachen Autokraten?
Nicht nur. Entscheidend war der Anachronismus, der sich bereits während der Revolution 1905 manifestierte – feudale Machtstrukturen in einem teilweise hochmodernen Land.
War die Revolution der Bolschewiki notwendig, um Russland in die Moderne zu katapultieren?
Sie war ursprünglich nicht notwendig – wenn nicht die liberale und die sozialistische Elite versagt hätten. Die Bolschewiki waren 1917 nur eine von vielen linken Parteien und auch nicht die zahlenmäßig stärkste, im Gegenteil. Das Wörtchen »Bolschewiki«, entstammt etymologisch dem Begriff »bolschinstwo«, die Mehrheit, die sie auf dem Parteikongress 1903 bei einer Abstimmung innerhalb der russischen Sozialdemokratie errungen hatten.
Alexander Kerenski, Duma-Abgeordneter der Partei der Sozialrevolutionäre, die in gewisser Hinsicht linker waren als die Bolschewiki – und dessen Eltern übrigens mit denen von Lenin befreundet waren und der in Simbirsk das gleiche Gymnasium besuchte, die gleichen Lehrer hatte, wie der junge Uljanow –, beging als Minister und dann als Chef der Provisorischen Regierung den verhängnisvollen Fehler, den Krieg weiterfüh- ren zu lassen. Selbst liberale Politiker der Provisorischen Regierung wie Pawel Miljukow hingen dem großrussischen Traum an, irgendwann das Kreuz wieder auf die Kuppel der Hagia Sophia in Istanbul zu pflanzen. Die Bauern und Soldaten hatten hingegen zwei bescheidenere Träume: Frieden und Land. Die Provisorische Regierung vertröstete sie auf die Zeit nach dem »siegreichen Frieden«. Dann würde eine Verfassungsgebende Versammlung einberufen, welche auch die Landfrage löst.
Damit wollten sich die Bauernsoldaten nicht abspeisen lassen.
Ja, da schmeißt der Muschik das Gewehr weg, desertiert von der Front und nimmt sich das Land mit Gewalt. Die Bolschewiki versprachen sofortigen Frieden und das Land ebenfalls sogleich. Das mag etwas populistisch gewesen sein, denn sie wussten ja auch nicht, was auf sie zukommt, als sie mithilfe der deutschen Generalität in die Heimat zurückkehrten. Die Bolschewiki hatten noch einen Vorteil, den sie später verlieren sollten: Sie hatten 1917 keine Angst davor, in der Minderheit zu sein. Als Lenin, aus dem Exil zurückgekehrt, die Losung »Alle Macht den Sowjets« ausgab, hielten ihn aber auch einige seiner engsten Mitarbeiter zunächst für einen Narren.
Hat Lenin gezockt? War einfach nur das Glück den Bolschewiki hold? Ein bisschen schon. Ich würde von einer »parasitären Revolution« reden. Ich weiß, das klingt nicht nett. Aber die Bolschewiki haben von den unerfüllten Versprechungen der Februarrevolution gelebt, der Unzufriedenheit des Volkes und der Unfähigkeit und Realitätsferne der anderen linken Parteien und Strömungen. Dass auch sie eines Tages Versprechen brechen würden, war nicht von Anfang an klar.
Die erste Sowjetregierung nannte sich »Provisorischer Rat der Volkskommissare« und war ein Koalitionskabinett. Die Bolschewiki hatten bei den ersten, nicht ganz repräsentativen Wahlen 25 Prozent der Stimmen erhalten – die Sozialrevolutionäre 40 Prozent. Im Januar 1918 löste aber die Sowjetregierung die Verfassungsgebende Versammlung, die Konstituante, auf. Das war die Wende, die den Bürgerkrieg auslöste, und nicht der Aufstand in der Nacht vom 6. zum 7. November 1917 in Petrograd, nach altem Kalender am 24./25. Oktober. Der Sturz der Provisorischen Regierung, der sogenannte Sturm auf das Winterpalais, der gar nicht so stattfand, wie spätere Legenden suggerierten, verlief fast unblutig. Es war ein Coup, kein Putsch im traditionellen Sinne. Die Einsicht der Sowjets, nicht nur der Bolschewiki, dass die Provisorische Regierung unhaltbar war, eröffnete die Zeitenwende.
Warum erregt bis heute die Hinrichtung des letzten Zaren 1918 die Gemüter stärker als die des englischen Königs Karl I. oder des französischen Ludwig XVI.?
Die im heutigen Russland vor allem von der Kirche betriebene Kanonisierung des Zaren als »Märtyrer« und die heftigen Proteste wegen angeblicher Blasphemie im Zusammenhang mit dem Kinofilm »Matilda« ist teilweise eine Reaktion auf die jahrzehntelange Tabuisierung der wirklich bestialischen Ermordung der Monarchenfamilie, die in dieser Weise weder während der französischen noch der englischen Revolution erfolgte. Trotzdem sehe ich in Nikolai und Alexandra weder Heilige noch Märtyrer. Wenn man von Märtyrern reden will, dann waren das die Kinder und wenige Getreue, die wie der Hausarzt, der Chefkoch und die Hofdame freiwillig das Los ihrer Herrschaften teilten. Der Zar war kein Unschuldslamm. Selbst in seinen letzten Tagen, im goldenen Käfig in Jekaterinburg, las er noch das judenfeindliche Pamphlet »Protokolle der Weisen von Zion«.
War der Große Terror unter Stalin schon bei Lenin angelegt?
Der Terror begann unter Lenin, aber er wurde auch von der anderen Seite, den Weißen, praktiziert. Zweitens lag Lenin eine Säuberung innerhalb der eigenen Partei fern. Er war ein Sozialdemokrat alter Schule und hatte noch persönliche Bindungen an inzwischen zu »Sozialverrätern« erklärten ehemaligen Genossen wie Karl Kautsky. Er ließ im Kreml 1918, an der Stelle eines Denkmals der Romanow-Dynastie, einen Obelisken zu Ehren der Sozialisten früherer Zeiten aufstellen, darunter Karl Marx, Ferdinand Lassalle und Pierre-Joseph Proudhon. Er schrieb 1918 einen Nachruf auf Georgi Plechanow, den er als seinen Meister betrachtete, obwohl dieser die Bolschewiki scharf kritisierte. Und schließlich dachte er nicht im Traum daran, Lew Kamenew und Grigori Sinowjew aus der Partei auszuschließen, obwohl die beiden kurz vor dem geheim geplanten Oktoberaufstand diesen in Gorkis Blatt verurteilt und damit auch publik gemacht hatten. Er beschimpfte sie lediglich als »Saboteure«, Stalin hingegen ließ deren »Verrat« zwanzig Jahre später in einem Schauprozess zur Anklage bringen.
Die Weltmacht Sowjetunion ist fast so sang- und klanglos zusammengebrochen wie das Zarenreich, allerdings schon nach 70 Jahren und nicht erst fünf Jahrhunderten.
Ich glaube, allen Imperien ist von Anfang an der Keim des Untergangs inhärent. Es gibt kein Imperium, das zufällig zerfällt. Die Erosion kann Jahrhunderte dauern, wie beim Römischen oder Osmanischen Reich, aber auch Jahrzehnte. Das russische Zarenreich hat seinen Zenit als Großmacht mit dem Sieg über Napoleon 1813 und der Schaffung der Heiligen Allianz zwei Jahre darauf erreicht, die Sowjetunion mit dem Sieg über Hitlerdeutschland und der Ausweitung ihres Einflussbereichs auf mehreren Kontinenten.