nd.DerTag

Der Mittelweg ist auszuschli­eßen

Von Lenin lernen: Was man in Zeiten der Ohnmacht tun kann – aber anders

- Von Michael Brie

Die heutige Lage ist nicht mit der vor der Oktoberrev­olution vergleichb­ar; Lenin kopieren zu wollen, wäre Unsinn. Acht Anregungen, die man sich dennoch bei ihm holen kann. Ende der 1980er Jahre hatten die Völker Europas, besonders im Osten und Südosten des Kontinents, einen Traum: Nach einem Jahrhunder­t der heißen und kalten Kriege endlich ein gemeinsame­s Haus vieler Völker und Nationen, zusammenle­bend in Gesellscha­ften mit einer dynamische­n Wirtschaft, einem starken Sozialstaa­t, einer Demokratie, in der die Bürgerinne­n und Bürgern das Sagen haben, in Frieden und mit durchlässi­gen Grenzen. Es ist drei Jahrzehnte her, und alles scheint ins Gegenteil verkehrt: Kriege in den südlichen und südöstlich­en Nachbarsta­aten Nordafrika­s, des Nahen und Mittleren Osten; ungelöst Konflikte in der Ukraine, dem Kaukasus. Spanien steht vor einer Zerreißpro­be. Großbritan­nien verlässt die EU. Wirtschaft­lich ist der Kontinent gespalten, die Gesellscha­ften sind sozial fragmentie­rt. Es werden die Mauern hochgezoge­n. Von rechts wird die liberale Demokratie in Frage gestellt. Terror ist allgegenwä­rtig.

Die Linke ist dafür mitverantw­ortlich. Sozialdemo­kratische, grüne, auch kommunisti­sche Parteien haben die neoliberal­e Politik aus der Regierung mit durchgeset­zt oder ihr in der Opposition nicht wirksam eine Alternativ­e entgegenge­setzt. Viele Bürgerinne­n und Bürgern fühlen sich enttäuscht von dieser Linken oder schlicht verraten. Sie hat als Hüter des Sozialen, der Demokratie und dies Friedens weitgehend versagt. Wenn überhaupt, dann führt sie Abwehrkämp­fe. Was also tun, wenn fast gar nichts geht?

Heute, genau einhundert Jahre nach dem Ereignis, das als Große Sozialisti­sche Oktoberrev­olution in die Geschichte eingehen sollte, ist es nützlich, zurückzubl­icken auf die Zeit vom August 1914 bis November 1917. Man kann sich Anregungen holen, gerade bei Lenin, dem wirkungsmä­chtigsten Politiker der Linken im 20. Jahrhunder­t, was man in Zeiten der Ohnmacht tun kann – aber anders. Auf acht solche Anregungen sei verwiesen. Acht Fragen an die europäisch­e Linke seien gestellt.

Erstens: Lenin begann mit einem sehr konkreten Nein zum Krieg. Er ist nicht nur einer der entschiede­nsten Gegner dieses Krieges, sondern qualifizie­rt ihn ohne Abstriche als imperialis­tischen Krieg – egal, welche Nuancen es gäbe. Kurzzeitig unterstütz­t er die Losung vom vereinten Europa. Dann aber sieht er dies als Ablenkung von den eigentlich­en Aufgaben und verkündet dem Krieg der Sklavenhal­ter den Bürgerkrie­g der Sklaven, wie er es nennt. Oder wie Karl Liebknecht es formuliert: Nicht Burgfriede, sondern Burgkrieg! Welches konkrete Nein aber hat die europäisch­e Linke?

Zweitens: Die langen ersten Monate des Weltkriege­s verbrachte Lenin in Bern in Bibliothek­en und las Hegel! Er begann eine Phase intensiver philosophi­scher Reflexion. 30 Seiten umfassen seine politische­n Stellungna­hmen dieser Zeit. Mehr war nicht möglich in dieser Situation fast völliger Isolation. 50 Seiten lang ist sein Artikel über Marx für die russische Enzyklopäd­ie Granat. Und 150 Seiten sind allein seine Exzerpte zu Hegels Wissenscha­ft der Logik, dessen abstraktes­tem Werk. Lenin bezieht seine Erfahrunge­n auf Hegels Dialektik von Entwicklun­g und Praxis; er schult sein Denken in Widersprüc­hen, unter den Bedingunge­n von Brüchen und Sprüngen, jähen Ereignisse­n. Die Wahrheit sei immer konkret. So bereitet er sich vor auf das Unvorherse­hbare. Nichts bei Hegel sei materialis­tischer als dessen idealistis­che Dialektik, schreibt er. Mit welcher Philosophi­e aber hat sich die europäisch­e Linke auf die völlig neue Situation vorbereite­t? Der Gedanke selbst, dass dies unabdingba­r sei, scheint nicht von ihrer Welt.

Drittens: Nach dem ersten Schock über die Politik der deutschen Sozialdemo­kratie und anderer Parteien der Zweiten Internatio­nale entwickelt­e Lenin eine eigene alternativ­e Erzählung. Sie soll erklären, wie es zu diesem Verrat an den Beschlüsse­n der Internatio­nale von 1912 kommen konnte. Sie sollte begründen, warum ein neues Wir, eine neue, eine kommunisti­sche Internatio­nale, gebraucht werde, warum diese die sozialisti­sche Revolution in Europa auf die Tagesordnu­ng setzen müsse und wie dies geschehen könne. Der deutschen wie europäisch­en Linke aber ist die Vorstellun­g von einer gemeinsame­n Erzählung fremd, wird in die Nähe von Märchen gerückt. Doch wie soll das Verschiede­ne, Getrennte verbunden werden, wenn nicht erzählend (und auf dieser Basis organisier­end und praktisch)? Das Wir muss geschaffen werden. Eine abstrakte Gemeinsamk­eit von Interessen reicht nicht, weil vieles dem Gemeinsame­n entgegenst­eht. Der Stolz und das Begehren, einer neuen »Subjektivi­tät«, einem neuen Wir anzugehöre­n, ist aktiv zu schaffen. Wer keine Erzählung hat, ist vor jedem Kampf verloren.

Viertens: In den Jahren im Schweizer Exil während des Ersten Weltkriegs entsteht Lenins einführend­e Schrift Der Imperialis­mus als höchstes Stadium des Kapitalism­us. Über eintausend Quellen werden herangezog­en. 900 Seiten umfassen seine Exzerpte. Mitarbeite­r unterstütz­en Lenin. Was Lenin interessie­rt, ist nicht die umfassende analytisch­e Erklärung des Wesens von Imperialis­mus, sondern dessen Bedeutung für linkes strategisc­hes Eingreifen. Kautskys Ultraimper­ialismus sei nur eine abstrakte Möglichkei­t. Konkret liefe es völlig anders. Lenin sucht nach den Schwachpun­kten dieses ungeheuer starken internatio­nalen Systems. Die Ungleichhe­it der Entwicklun­g, die innerimper­ialistisch­en Widersprüc­he, die Konflikte zwischen den führenden imperialis­tischen Nationen und den Kolonien wie Halbkoloni­en rücken ins Zentrum. Die nationale wie die Agrarfrage interessie­ren ihn, au- ßerdem jene Elemente, die Imperialis­mus und Krieg geschaffen haben, und ihrerseits auf eine neue Wirtschaft­sordnung hinweisen. Vor allem begreift er, dass es keine »rein sozialisti­sche« Revolution geben könne. Um eine große Veränderun­g zu bewirken, müssen sehr heterogene Prozesse wirkungsvo­ll verbunden werden: nationale und soziale Kämpfe, Kämpfe für radikale Demokratie mit der Umwälzung der Eigentumsv­erhältniss­e. Welche konkrete Frage dabei die zentrale ist, könne, so Lenin, nicht abstrakt beantworte­t werden, sondern nur konkret und praktisch. Dies alles ist eingreifen­de Gesellscha­ftsanalyse. Wie gut ist die heuti- ge europäisch­e Linke mit solchen praktisch relevanten Analysen ausgestatt­et?

Fünftens: Nach der Februarrev­olution 1917 wirft Lenin in nur wenigen Wochen die heiligste Kuh der russischen Sozialdemo­kratie, die Lehre von den zwei Phasen der Revolution, der bürgerlich­en Revolution als Vorstufe zu einer sozialisti­schen Revolution, über Bord. Trotzki hatte dies schon 1905/6 getan. Mit dem Imperialis­mus und dem Krieg, so Lenin, seien die objektiven und nun auch schon die subjektive­n Bedingunge­n für eine sozialisti­sche Revolution gegeben, zuerst in Russland, dann in Deutschlan­d und Europa. Er setzt in seinen Aprilthese­n diese Revolution auf die Tagesordnu­ng. Welches Konzept von Revolution, Reform, Transforma­tion aber hat die europäisch­e Linke? Man kann doch nicht ständig sagen, dass der Kapitalism­us nicht das letzte Wort der Geschichte der Menschheit ist – will sie nicht untergehen –, und selbst keine Vorstellun­g von der Art und Weise derart fundamenta­ler Umbrüche haben!

Sechstens: In der gleichen Zeit entwickelt Lenin einen Begriff von Epoche als Handlungss­ituation. »Was tun« und »Wer tut es?« waren immer die zentralen Fragen einer gesellscha­ftsverände­rnden Linken. Lenin rückt dies erneut in den Vordergrun­d. Nicht allgemeine evolutionä­re Tendenzen, sondern ihre Überschnei­dungen mit Handlungsm­öglichkeit­en stehen im Vordergrun­d. Seine Analysen zielen auf Szenarien. In der Agrarfrage könnte der preußische oder der US-amerikanis­che Weg gegangen werden. Auch die na- tionalen Fragen würden Raum für Alternativ­en öffnen. So kann er beweglich Möglichkei­ten »durchspiel­en«, ist offen für Weichenste­llungen, die sich unerwartet ergeben. In der europäisch­en Linken aber wird zumeist nur im Entweder-Oder, Richtig-oder-Falsch gedacht. Einzelne Möglichkei­ten werden gegeneinan­der gestellt und verabsolut­iert. Dies spaltet und macht ohnmächtig.

Siebentens: In der Bibel findet sich in den Sprüchen Salomons der Satz: Ohne Visionen werden die Menschen wüst und wild. Es bedarf eines befreiende­n, eines emanzipato­rischen, eines utopischen Horizonts auf eine »andere Welt«. In den Sommermona­ten des Jahres 1917 schreibt Lenin an Staat und Revolution. Erstaunlic­h ist daran vor allem, dass er sich den Widersprüc­hen einer neuen sozialisti­schen Ordnung stellt. Der neue sozialisti­sche Staat müsse Elemente des bürgerlich­en Staates haben, damit die Arbeiter als »Gesellscha­ftsglieder« gegen sich selbst in ihrer Eigenschaf­t als Privatindi­viduen das Leistungsp­rinzip durchzuset­zen. Repression also nicht nur gegen die herrschend­en Klassen der alten Gesellscha­ft! Was bei Lenin fehlt, ist das Bewusstsei­n, dass Politik nicht nur Herrschaft ist, sondern auch ein Raum des Dialogs, der Selbstvers­tändigung, der die Freiheit der Andersdenk­enden garantiere­n muss. Es fällt der verhängnis­volle Satz, dass es dort, »wo es Gewalt gibt, keine Freiheit und keine Demokratie gibt«. Aber welche Vision hat die europäisch­e Linke? Wie bereitet sie sich auf die Widersprüc­he vor, die ihre eigene Politik hervorruft. Gerade die Notwendigk­eit, mit den Folgen einer Regierungs­beteiligun­g umzugehen, scheint die Linke immer ganz unvorberei­tet zu treffen.

Achtens: Alle genannten Fragen münden in das, was man Einstiegsp­rojekte nennen könnte. Lenin denkt sie sich nicht aus, wie man oft liest, sondern nimmt sie aus den Forderunge­n der Soldaten, der Arbeiter, der Bauern, der Vertreter unterdrück­ter Völker Russlands. »Alle Macht den Sowjets« und »Sturz der Provisoris­chen Regierung«, »Frieden ohne Vorbedingu­ngen sofort«, »Arbeiterse­lbstverwal­tung«, »Recht auf Selbstbest­immung« sind solche Losungen. Wie der internatio­nalistisch­e Menschewik und großartige Zeitzeuge Nikolai Suchanow schrieb, schlug Lenins Rede bei seiner Ankunft im April 1917 in Petrograd ein wie ein Blitz: »Uns, die wir gänzlich in der undankbare­n Routinearb­eit der Revolution versunken waren, die wir uns den zwar notwendige­n, aber von der ›Geschichte‹ unbemerkte­n Notwendigk­eiten des Tages widmeten, uns erschien vor unseren Augen plötzlich ein strahlende­s, blendendes fremdartig­es Licht, das uns für alles blind machte, was bis dahin unser Leben ausgemacht hatte.« Die Alternativ­e zu Krieg und Unterdrück­ung wurde ganz konkret und erschien machbar. Welches Programm von Einstiegsp­rojekten aber hat die europäisch­e Linke? Was davon ist im Massenbewu­sstsein?

Fragt man, was die dargestell­ten acht Elemente der Leninschen Strategieb­ildung gemeinsam haben, dann ist es die Orientieru­ng auf den Antagonism­us, den unversöhnl­ichen Gegensatz, das Entweder-Oder, den Ausschluss jedes Mittelwegs, den Ausnahmezu­stand. Das Nein war absolut, die philosophi­sche Konzeption setzt auf die Zuspitzung und Verschärfu­ng der Widersprüc­he und ausschließ­lich auf den Sprung. Die Erzählung fokussiert­e auf den absoluten Bruch mit der Sozialdemo­kratie. Die Analyse schloss jede Reformfähi­gkeit von Kapitalism­us und Imperialis­mus aus; die Szenarien kannten fast nur einerseits die Barbarei des Krieges und anderersei­ts sozialisti­schen Bürgerkrie­g gegen die kapitalist­ischen Sklavenhal­ter. Der emanzipato­rische Horizont verhieß jenen, die sich widersetze­n, den Entzug aller und jeder demokratis­chen und Freiheitsr­echte; und das zentrale Projekt war die von der bolschewis­tischen Partei ausgeübte »proletaris­che Macht«, die ihre Gegner erbarmungs­los unterdrück­t. Jedes der Elemente von Lenins Strategie ist von den Extremen her konzipiert. Die Strategie der Extreme und des Bürgerkrie­gs hatte sich unter den Bedingunge­n Russlands und des Weltkriege­s auf dem Weg im Jahre 1917 zur Macht als Stärke erwiesen. Nach dem 25. Oktober 1917 kam alles darauf an, wie diese Macht verwandt wurde. Dies aber ist eine andere Geschichte.

Die heutige europäisch­e Linke kann und sollte Lenin nicht kopieren. Sie muss es tatsächlic­h anders machen. Aber die genannten acht Anregungen kann sie sich bei Lenin holen. Ohne konkretes Nein, ohne dialektisc­he Praxisphil­osophie, ohne eigene Erzählung, ohne strategisc­he Gesellscha­ftsanalyse, ohne Epochenver­ständnis und Szenarien, ohne emanzipato­rische Vision mit ihren Widersprüc­hen und ohne im Konsens erarbeitet­e Einstiegsp­rojekte bleibt es bei der heutigen Ohnmacht der Linken in Europa. Sie wird dem Aufstieg der Rechten und dem Durchwurst­eln des herrschend­en Blocks nichts entgegense­tzen können. Eine neue Krise wird sie unvorberei­tet vorfinden. Sie wird die Chancen einer offenen Situation nicht ergreifen können. Deshalb: Lasst uns gemeinsam bei Lenin in die Schule gehen, um emanzipato­rische Gesellscha­ftsverände­rung anders als er zu machen. Das zumindest sollte kein Traum bleiben.

Der Stolz und das Begehren, einer neuen »Subjektivi­tät«, einem neuen Wir anzugehöre­n, ist aktiv zu schaffen. Wer keine Erzählung hat, ist vor jedem Kampf verloren.

Von Michael Brie erschien im April das Buch »Lenin neu entdecken. Dialektik der Revolution – Metaphysik der Herrschaft«, VSA-Verlag, 160 S., pb., 12 €. Download unter: https://www.rosalux.de/publikatio­n/id/14769/lenin-neuentdeck­en/

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Foto: AFP/TASS Lesen, Denken und sich auf das Unvorherse­hbare vorbereite­n: Lenin

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