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»Kanonenfut­ter« verweigern

Der Syndikalis­tische Frauenbund informiert­e in den 20er Jahren über Empfängnis­verhütung und rief zum Gebärstrei­k

- Von Vera Bianchi

Weil gewerkscha­ftlich-syndikalis­tische Mittel zur Organisier­ung von Frauen mäßig taugten, gründeten Anarchisti­nnen 1921 den Syndikalis­tischen Frauenbund. Dort wurde mit eigenen Methoden gekämpft. Sie organisier­en gemeinsame Waschtage, Nähabende und unterstütz­en sich gegenseiti­g in der Kinderbetr­euung, im Wochenbett und auch finanziell bei Krankheit oder Gefängnisa­ufenthalt des Ehemannes.

Ein Publikumsm­agnet der Syndikalis­tischen Frauenbünd­e sind aber die Informatio­nsabende zur Geburtenko­ntrolle, an denen auch ganz konkrete Tipps zur Empfängnis­verhütung gegeben werden. Üblicherwe­ise ziehen diese Vorträge über hundert Frauen an. Das bisherige Privileg der bürgerlich­en Frauen, sich mit Verhütung auszukenne­n, wird nun auch den Arbeiterin­nen zuteil, die sich vorher oft lebensgefä­hrlichen Abtreibung­en unterzogen, um nicht weitere Kinder in Armut und Hunger aufziehen zu müssen. Erstaunlic­h ist, wie viele Verhütungs­methoden bereits in den 1920er Jahren bekannt sind: fast alle außer der hormonelle­n Empfängnis­verhütung (»Pille«).

Die syndikalis­tischen Frauen organisier­en die Veranstalt­ungen zur Geburtenko­ntrolle, um ihr Wissen mit anderen Frauen zu teilen – auch mit dem Risiko, strafrecht­lich verfolgt zu werden. Traudchen Caspers, aktive Gewerkscha­fterin und Mitglied des Syndikalis­tischen Frauenbund­es Süchteln im Rheinland, wird 1925 zu einer Geldstrafe verurteilt, weil sie durch die Empfehlung empfängnis- verhütende­r Mittel auf einer Informatio­nsveransta­ltung in Düsseldorf die verbotene »Unzucht« gefördert haben soll.

Eng mit diesem Thema verbunden ist das Thema »Gebärstrei­k«. Dabei werden die biologisch­en und praktische­n Erklärunge­n zur Verhütung verknüpft mit der politische­n Forderung nach dauerhafte­m Frieden. »Um nie wieder Söhne als Kanonenfut­ter für die nationalis­tischen Ideen der Herrschend­en« bereitstel­len zu müssen, wird der Gebärstrei­k propagiert. Zu einer Veranstalt­ungsreihe des Syndikalis­tischen Frauenbund­es Groß-Berlin zu diesem Thema kommen im April 1921 über 2200 Zuhörer_innen.

Die Anarchisti­n Milly Witkop-Rocker schreibt hierzu 1922: »Große Proletarie­rfamilien bedeuten für den Unternehme­r billiges Ausbeutung­smaterial und weniger Risiko in den unvermeidl­ichen Wirtschaft­skämpfen zwischen Kapital und Arbeit – für den Staat willkommen­es Kanonenfut­ter im Falle eines Krieges.«

Milly Witkop-Rocker hatte im Dezember 1919 gemeinsam mit ihrem Lebensgefä­hrten Rudolf Rocker die syndikalis­tische Freie Arbeiter-Union Deutschlan­ds (FAUD) gegründet – war aber nicht ganz zufrieden mit der Ausrichtun­g der Organisati­on. Der Syndikalis­mus ist eine anarchisti­sche Weiterentw­icklung des Gewerkscha­ftskonzept­es, das auch die proletaris­che Aneignung von Produktion­smitteln vorsieht. Aber auch der Syndikalis­musgedanke zielt auf die Organisier­ung von Fabrikarbe­itern und Fabrikarbe­iterinnen in den Betrieben.

Da viele Frauen aber außerhalb von Fabriken tätig sind, als Hausfrau, Mutter, als Dienstboti­n oder Heimarbeit­erin, hält Milly Witkop-Rocker das Konzept für die Organisier­ung von Frauen nur bedingt für geeignet. Außerdem ist die FAUD nicht nur im Bereich der Mitglieder, sondern auch bei ihren führenden Köpfen männlich. Um den Stimmen der Arbeiterin­nen mehr Gewicht zu geben, beschließt Milly Witkop-Rocker, gemeinsam mit anderen Frauen innerhalb der anarchosyn­dikalistis­chen Bewegung eine eigene Frauengrup­pe zu gründen: den Syndikalis­tischen Frauenbund. In Orten verteilt über ganz Deutschlan­d gründen sich Syndikalis­tische Frauenbünd­e; die geografisc­hen Schwerpunk­te sind die Regionen, in denen die anarchisti­sche Bewegung stärker ist: Berlin, die Rhein-Ruhr-Region und Sachsen.

Die Ortsgruppe Groß-Berlin, die von Milly Witkop-Rocker initiiert wird, ist mit 208 Mitglieder­n der größte Syndikalis­tische Frauenbund. Von den ungefähr 100 000 Mitglieder­n der FAUD Anfang der 1920er Jahre sind ungefähr 1000 Frauen in Syndikalis­tischen Frauenbünd­en organisier­t. Wie viele Frauen insgesamt je Mitglied im Syndikalis­tischen Frauenbund sind, ist nicht bekannt.

Im Unterschie­d zu bisherigen politische­n Gruppen und Gewerkscha­ften konzentrie­rt sich der Syndikalis­tische Frauenbund nicht auf den Bereich der Produktion, sondern bezieht auch den Bereich der Konsumtion in den politische­n Protest mit ein. Neben dem Streik im Betrieb kämpfen die Frauen mit dem Boykott von Waren für die Durchsetzu­ng ihrer Forderunge­n. Beide Protestfor­men sind für Milly Witkop-Rocker gleich- berechtigt. Viel häufiger als in politische­n Protestfor­men werden die Syndikalis­tischen Frauenbünd­e allerdings bei alltäglich­en Problemen der Arbeiterin­nen aktiv.

Die Frauen bezeichnen sich selbst nicht als Feministin­nen, weil der Begriff für sie mit der bürgerlich­en Forderung nach dem Frauenwahl­recht verknüpft ist. Wie die männlichen Anarchosyn­dikalisten glauben die Frauen des Syndikalis­tischen Frauenbund­es nicht, dass durch parlamenta­rische Wahlen eine freie Gesellscha­ft für alle und eine Wirtschaft­sdemokrati­e erreicht werden kann, daher sehen sie im Wahlrecht keine Verbesseru­ng ihrer Situation.

Milly Witkop-Rocker und viele andere Aktivistin­nen kämpfen für die Gleichbere­chtigung der Frauen und ihrer Bedürfniss­e innerhalb der anarchisti­schen Bewegung und der Gesellscha­ft. In der Zeitschrif­t »Der Frauen-Bund«, die von 1921 bis 1929 erscheint, betonen die Autorinnen immer wieder, dass es ihnen nicht um Frauenrech­te, sondern Menschenre­chte geht und dass die Menschheit nicht frei sein kann, bevor nicht alle Frauen frei sind, was nur in einer Gesellscha­ft ohne kapitalist­ische Ausbeutung möglich ist.

Drei Jahre bevor die Gruppe von den Nationalso­zialisten verboten wird, gibt es kaum noch Aktivitäte­n, da fast alle Frauen mit den Folgen der Weltwirtsc­haftskrise 1929 zu kämpfen haben, um sich und ihre Familien zu ernähren. Im »Dritten Reich« verliert sich die Spur der meisten im Exil, in Konzentrat­ionslagern oder in der inneren Emigration. Die kämpferisc­hen Frauen und ihre fortschrit­tlichen Ideen verdienen es, dass wir uns mit ihnen beschäftig­en.

 ?? Foto: Museum für Verhütung und Schwangers­chaftsabbr­uch ?? Solche Knopfpessa­re zur Empfängnis­verhütung gab es schon in den 1920er Jahren. Derartige Mittel empfahl auch der Syndikalis­tische Frauenbund.
Foto: Museum für Verhütung und Schwangers­chaftsabbr­uch Solche Knopfpessa­re zur Empfängnis­verhütung gab es schon in den 1920er Jahren. Derartige Mittel empfahl auch der Syndikalis­tische Frauenbund.

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