Exzessiv online
Surfen, chatten, gamen ohne Ende – das muss keine Sucht sein.
Die Forschung zur Internetabhängigkeit ist noch jung. Manche Wissenschaftler stellen infrage, ob es sich immer um eine Verhaltenssucht handelt. Diskutiert wurde das auf dem Suchtkongress in Lübeck.
Wenn ein Projektmanager täglich mindestens acht Stunden am Computer verbringt und abends zur Entspannung weitere Stunden, käme niemand auf die Idee, ihn deshalb der Internetsucht zu verdächtigen. Ist es heutzutage nicht genauso normal, wenn Jugendliche täglich stundenlang im Netz surfen, chatten und spielen? Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht. Ob besorgte Mutter oder gar Suchtexperte – wir wissen trotz einer ganzen Reihe von Studien immer noch viel zu wenig über die vielfältigen Gründe für den stundenlangen Aufenthalt im Internet sowie über mögliche positive und negative Wirkungen.
In dem im Juli dieses Jahres veröffentlichten Bericht der Drogenbeauftragten der Bundesregierung nehmen Computerspiel- und Internetabhängigkeit gerade mal sieben von 175 Seiten ein. Das sagt einiges über den Stand der Forschung, obwohl sich international viele Wissenschaftler mit diesen Themen beschäftigen. Noch ist völlig unklar, ob die exzessive Nutzung sozialer Netzwerke wie Facebook oder Instagram überhaupt den Verhaltenssüchten zuzuordnen ist. Einige Studien weisen zwar darauf hin, dass manche Symptome wie Stimmungsmodifikationen und Entzugserscheinungen durchaus denen bei substanzbezogenen Süchten ähneln, für eine exakte Klassifizierung reichen die bisherigen Forschungsergebnisse jedoch nicht aus.
Anders verhält es sich beim pathologischen Computerspielen, der »Internet Gaming Disorder«. Dafür gibt es international verbindliche diagnostische Kriterien. Die Erkrankung liegt vor, wenn fünf oder mehr aus einer neun Punkte umfassenden Liste von Symptomen über einen Zeitraum von zwölf Monaten bestehen. Das beginnt mit der andauernden Beschäftigung mit Internet- oder Onlinespielen, geht weiter mit Entzugssymptomen wie Unruhe und Gereiztheit, wenn nicht gespielt werden kann, und endet beim exzessiven Spielen trotz des Wissens um psychosoziale Probleme und trotz des drohenden Verlusts von Beziehungen, Arbeit oder Ausbildung.
Der Drogenaffinitätsstudie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zufolge hat die Computerspiel- und Internetabhängigkeit bei 12- bis 17-Jährigen von 2011 bis 2015 statistisch signifikant zugenommen (von 5,3 auf 6,2 Prozent). Weibliche Jugendliche sind der Studie zufolge mit 7,1 Prozent stärker betroffen als männliche (4,5 Prozent). In einer nur auf Computerspiele bezogenen Untersuchung waren 8,4 Prozent der männlichen Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 12 und 25 Jahren bereits abhängig im Sinne der »Internet Gaming Disorder«. Unter den Teilnehmerinnen waren es mit 2,9 Prozent deutlich weniger.
In einer weiteren Studie mit Kindern im Kita-Alter (2 bis 5 Jahre) gaben 69,5 Prozent der Eltern an, ihre Jüngsten könnten sich ohne die Nutzung von digitalen Medien maximal zwei Stunden selbstständig beschäftigen. Bei denjenigen, die digitale Medien bereits intensiv nutzten, zeigte sich eine motorische Hyperaktivität. Auffällig waren vermehrt Sprachentwicklungsstörungen.
Beim diesjährigen Deutschen Suchtkongress im Oktober in Lübeck gehörte die Internetsucht zu den Schwerpunktthemen. Für Daria Kuss von der Nottingham Trend University macht der individuelle Spielkontext einen wesentlichen Unterschied zwischen Sucht und ausuferndem Gebrauch. Sie beschrieb in Lübeck den Fall eines arbeitslosen Mannes, der 14 Stunden am Tag spielte. »Er war dabei sehr erfolgreich, was ihm Mut machte. Für ihn war das Spielen eine Bereicherung.« Ganz anders der Fall eines 38-jährigen Steuerberaters, der ebenfalls 14 Stunden pro Tag mit Computerspielen verbrachte, den Kontakt zu seiner Familie dadurch verlor, wenig schlief und deshalb häufiger Fehler im Job machte, weshalb die Kanzlei ihm kündigte. Am Ende ließ sich seine Frau von ihm scheiden. Gleiches Spieleverhalten kann Daria Kuss zufolge also unterschiedliche Auswirkungen haben.
Spielen ist für die Psychologin Kuss zunächst eine soziale Aktivität. Zur Bewertung komme es darauf an, welches Spiel gespielt wird und warum gerade dieses. Verbindet es den Spieler mit anderen Mitspielern? Füllt das Spiel eine in seinem Leben bestehende Lücke, verschafft es Erfolgserlebnisse, oder führt es zum Rückzug aus der realen Welt? Solche Abwägungen gelte es auch für andere Aktivitäten im Internet zu treffen. »Der Begriff Internetsucht ist nicht konkret genug«, sagt Daria Kuss. »Was User tun, welche Beweggründe sie antreiben und welche Wirkungen ihre jeweiligen Aktivitäten im Netz haben, zwingt aus meiner Sicht zu einer Differenzierung und damit Verabschiedung von dem Begriff.« Mit dieser Ansicht ist die Wissenschaftlerin nicht allein. So wie zwischen anderen Süchten – Alkohol-, Tablettenund Heroinsucht sowie Verhaltenssüchten wie Kauf-, Spiel- und Sexsucht – seit Jahren sorgfältig diffe- renziert wird, halten inzwischen viele Experten auch eine fachlich begründete Unterscheidung zwischen den verschiedenen Aktivitäten mit Suchtpotenzial im Internet für nötig.
In eine ähnliche Richtung deuteten in Lübeck die Ausführungen von Christoph Klimmt, der an der Hochschule für Musik und Theater in Han- nover auf dem Gebiet der Kommunikationswissenschaft und Computerspiele forscht. Nach seiner Erkenntnis schöpfen Betroffene aus dem exzessiven, unkontrollierten Gebrauch von Online-Medien häufig Gratifikationen, also Anerkennung oder Belohnung. Diese bestünden nicht nur im Unterhaltungswert, sondern resultierten auch aus der Verarbeitung des Erlebten in sozialen Netzwerken. Viele »Likes« dort haben einen hohen Stellenwert.
Als Schlussfolgerung daraus unterscheidet Klimmt zwei Formen problematischen Internetgebrauchs: eine im Kern pathologische, die nicht getrieben vom Streben nach PositivGratifikationen ist, sondern ihren Ursprung in bestehenden psychischen Problemen hat (etwa Vorerkrankungen, Probleme mit der Selbstregulation), sowie eine vorübergehende Form, bei der aus hoher Anerkennung eine exzessive Nutzungsweise erwächst. Letztere kann aber wegen der Abwesenheit grundlegender psychischer Probleme auch ohne Intervention abebben, sobald sich die Gratifikationen abnutzen oder andere, attraktivere, auftauchen.
Kuss ließ auf der Suche nach den Gründen, weshalb sich viele Jugendliche täglich mehrere Stunden mit sozialen Medien beschäftigen, im Rahmen einer Studie 3000 niederländische Heranwachsende befragen. Dabei stellte sich heraus, dass viele Angst hatten, irgendetwas zu verpassen, wenn sie nicht online sind. Bei manchen nahm dieses Gefühl ein Ausmaß an, dass ihr Verhalten in die Nähe einer Zwangserkrankung rückte. Eine weitere Korrelation mit einer psychischen Erkrankung hat Kuss bei dem unter Jugendlichen immer beliebter werdenden Netzwerk Instagram gefunden: Die Nutzung von Instagram korreliert mit einer Depression viel häufiger als die anderer sozialer Netzwerke. Auch dafür gibt es noch keine wissenschaftliche Erklärung.
Die Nutzung von Instagram korreliert viel häufiger als die anderer sozialer Netzwerke mit einer Depression.