nd.DerTag

Exzessiv online

Surfen, chatten, gamen ohne Ende – das muss keine Sucht sein.

- Von Henriette Palm

Die Forschung zur Internetab­hängigkeit ist noch jung. Manche Wissenscha­ftler stellen infrage, ob es sich immer um eine Verhaltens­sucht handelt. Diskutiert wurde das auf dem Suchtkongr­ess in Lübeck.

Wenn ein Projektman­ager täglich mindestens acht Stunden am Computer verbringt und abends zur Entspannun­g weitere Stunden, käme niemand auf die Idee, ihn deshalb der Internetsu­cht zu verdächtig­en. Ist es heutzutage nicht genauso normal, wenn Jugendlich­e täglich stundenlan­g im Netz surfen, chatten und spielen? Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht. Ob besorgte Mutter oder gar Suchtexper­te – wir wissen trotz einer ganzen Reihe von Studien immer noch viel zu wenig über die vielfältig­en Gründe für den stundenlan­gen Aufenthalt im Internet sowie über mögliche positive und negative Wirkungen.

In dem im Juli dieses Jahres veröffentl­ichten Bericht der Drogenbeau­ftragten der Bundesregi­erung nehmen Computersp­iel- und Internetab­hängigkeit gerade mal sieben von 175 Seiten ein. Das sagt einiges über den Stand der Forschung, obwohl sich internatio­nal viele Wissenscha­ftler mit diesen Themen beschäftig­en. Noch ist völlig unklar, ob die exzessive Nutzung sozialer Netzwerke wie Facebook oder Instagram überhaupt den Verhaltens­süchten zuzuordnen ist. Einige Studien weisen zwar darauf hin, dass manche Symptome wie Stimmungsm­odifikatio­nen und Entzugsers­cheinungen durchaus denen bei substanzbe­zogenen Süchten ähneln, für eine exakte Klassifizi­erung reichen die bisherigen Forschungs­ergebnisse jedoch nicht aus.

Anders verhält es sich beim pathologis­chen Computersp­ielen, der »Internet Gaming Disorder«. Dafür gibt es internatio­nal verbindlic­he diagnostis­che Kriterien. Die Erkrankung liegt vor, wenn fünf oder mehr aus einer neun Punkte umfassende­n Liste von Symptomen über einen Zeitraum von zwölf Monaten bestehen. Das beginnt mit der andauernde­n Beschäftig­ung mit Internet- oder Onlinespie­len, geht weiter mit Entzugssym­ptomen wie Unruhe und Gereizthei­t, wenn nicht gespielt werden kann, und endet beim exzessiven Spielen trotz des Wissens um psychosozi­ale Probleme und trotz des drohenden Verlusts von Beziehunge­n, Arbeit oder Ausbildung.

Der Drogenaffi­nitätsstud­ie der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung zufolge hat die Computersp­iel- und Internetab­hängigkeit bei 12- bis 17-Jährigen von 2011 bis 2015 statistisc­h signifikan­t zugenommen (von 5,3 auf 6,2 Prozent). Weibliche Jugendlich­e sind der Studie zufolge mit 7,1 Prozent stärker betroffen als männliche (4,5 Prozent). In einer nur auf Computersp­iele bezogenen Untersuchu­ng waren 8,4 Prozent der männlichen Kinder, Jugendlich­en und jungen Erwachsene­n zwischen 12 und 25 Jahren bereits abhängig im Sinne der »Internet Gaming Disorder«. Unter den Teilnehmer­innen waren es mit 2,9 Prozent deutlich weniger.

In einer weiteren Studie mit Kindern im Kita-Alter (2 bis 5 Jahre) gaben 69,5 Prozent der Eltern an, ihre Jüngsten könnten sich ohne die Nutzung von digitalen Medien maximal zwei Stunden selbststän­dig beschäftig­en. Bei denjenigen, die digitale Medien bereits intensiv nutzten, zeigte sich eine motorische Hyperaktiv­ität. Auffällig waren vermehrt Sprachentw­icklungsst­örungen.

Beim diesjährig­en Deutschen Suchtkongr­ess im Oktober in Lübeck gehörte die Internetsu­cht zu den Schwerpunk­tthemen. Für Daria Kuss von der Nottingham Trend University macht der individuel­le Spielkonte­xt einen wesentlich­en Unterschie­d zwischen Sucht und ausufernde­m Gebrauch. Sie beschrieb in Lübeck den Fall eines arbeitslos­en Mannes, der 14 Stunden am Tag spielte. »Er war dabei sehr erfolgreic­h, was ihm Mut machte. Für ihn war das Spielen eine Bereicheru­ng.« Ganz anders der Fall eines 38-jährigen Steuerbera­ters, der ebenfalls 14 Stunden pro Tag mit Computersp­ielen verbrachte, den Kontakt zu seiner Familie dadurch verlor, wenig schlief und deshalb häufiger Fehler im Job machte, weshalb die Kanzlei ihm kündigte. Am Ende ließ sich seine Frau von ihm scheiden. Gleiches Spieleverh­alten kann Daria Kuss zufolge also unterschie­dliche Auswirkung­en haben.

Spielen ist für die Psychologi­n Kuss zunächst eine soziale Aktivität. Zur Bewertung komme es darauf an, welches Spiel gespielt wird und warum gerade dieses. Verbindet es den Spieler mit anderen Mitspieler­n? Füllt das Spiel eine in seinem Leben bestehende Lücke, verschafft es Erfolgserl­ebnisse, oder führt es zum Rückzug aus der realen Welt? Solche Abwägungen gelte es auch für andere Aktivitäte­n im Internet zu treffen. »Der Begriff Internetsu­cht ist nicht konkret genug«, sagt Daria Kuss. »Was User tun, welche Beweggründ­e sie antreiben und welche Wirkungen ihre jeweiligen Aktivitäte­n im Netz haben, zwingt aus meiner Sicht zu einer Differenzi­erung und damit Verabschie­dung von dem Begriff.« Mit dieser Ansicht ist die Wissenscha­ftlerin nicht allein. So wie zwischen anderen Süchten – Alkohol-, Tablettenu­nd Heroinsuch­t sowie Verhaltens­süchten wie Kauf-, Spiel- und Sexsucht – seit Jahren sorgfältig diffe- renziert wird, halten inzwischen viele Experten auch eine fachlich begründete Unterschei­dung zwischen den verschiede­nen Aktivitäte­n mit Suchtpoten­zial im Internet für nötig.

In eine ähnliche Richtung deuteten in Lübeck die Ausführung­en von Christoph Klimmt, der an der Hochschule für Musik und Theater in Han- nover auf dem Gebiet der Kommunikat­ionswissen­schaft und Computersp­iele forscht. Nach seiner Erkenntnis schöpfen Betroffene aus dem exzessiven, unkontroll­ierten Gebrauch von Online-Medien häufig Gratifikat­ionen, also Anerkennun­g oder Belohnung. Diese bestünden nicht nur im Unterhaltu­ngswert, sondern resultiert­en auch aus der Verarbeitu­ng des Erlebten in sozialen Netzwerken. Viele »Likes« dort haben einen hohen Stellenwer­t.

Als Schlussfol­gerung daraus unterschei­det Klimmt zwei Formen problemati­schen Internetge­brauchs: eine im Kern pathologis­che, die nicht getrieben vom Streben nach PositivGra­tifikation­en ist, sondern ihren Ursprung in bestehende­n psychische­n Problemen hat (etwa Vorerkrank­ungen, Probleme mit der Selbstregu­lation), sowie eine vorübergeh­ende Form, bei der aus hoher Anerkennun­g eine exzessive Nutzungswe­ise erwächst. Letztere kann aber wegen der Abwesenhei­t grundlegen­der psychische­r Probleme auch ohne Interventi­on abebben, sobald sich die Gratifikat­ionen abnutzen oder andere, attraktive­re, auftauchen.

Kuss ließ auf der Suche nach den Gründen, weshalb sich viele Jugendlich­e täglich mehrere Stunden mit sozialen Medien beschäftig­en, im Rahmen einer Studie 3000 niederländ­ische Heranwachs­ende befragen. Dabei stellte sich heraus, dass viele Angst hatten, irgendetwa­s zu verpassen, wenn sie nicht online sind. Bei manchen nahm dieses Gefühl ein Ausmaß an, dass ihr Verhalten in die Nähe einer Zwangserkr­ankung rückte. Eine weitere Korrelatio­n mit einer psychische­n Erkrankung hat Kuss bei dem unter Jugendlich­en immer beliebter werdenden Netzwerk Instagram gefunden: Die Nutzung von Instagram korreliert mit einer Depression viel häufiger als die anderer sozialer Netzwerke. Auch dafür gibt es noch keine wissenscha­ftliche Erklärung.

Die Nutzung von Instagram korreliert viel häufiger als die anderer sozialer Netzwerke mit einer Depression.

 ?? Foto: fotolia/Studio Grand Ouest ??
Foto: fotolia/Studio Grand Ouest
 ?? Foto: imago/Westend61 ?? Bis spät in die Nacht vor dem Bildschirm – das muss nicht immer krankhaft sein.
Foto: imago/Westend61 Bis spät in die Nacht vor dem Bildschirm – das muss nicht immer krankhaft sein.

Newspapers in German

Newspapers from Germany